Rugul reibt sich die Hände über einem kleinen Haufen brennender Holzkohlen. Doch die Frau Anfang 40, die keinen Nachnamen trägt, hat kaum Zeit, sich aufzuwärmen. Sie kümmert sich um die Ordnung im Flüchtlingslager in Schah Schahid, im Osten Kabuls. Um die 100 Familien leben hier - in Zelten und unter Planen, die über die Erde gespannt sind. Nachts sinken die Temperaturen auf fast 20 Grad Minus. Der Boden ist durchgefroren. Die oberste Schicht verwandelt sich in der Mittagssonne in grauen Schlamm, in dem ein paar Kinder mit laufenden Nasen herumspringen. Rugul hat einen harten Job: Sie stammt aus Dschalalabad, im Osten Afghanistans, und ist für die etwa 50 Familien im Lager zuständig, die aus allen Teilen des Landes in die Hauptstadt geflohen sind.
Die andere Hälfte der Zeltbewohner stammt aus Herat, im Westen des Landes und hat ihren eigenen Vorsteher. "Wenn Besucher kommen, sollt ihr Euch benehmen und nicht herumlaufen und betteln", schimpft Rugul einen Gruppe Kinder aus. Wenn sie nicht streng mit den Leuten sei und Ordnung halte, werde das Leben für alle im Lager noch schlechter, sagt sie.
Eisige Temperaturen: Kältewelle fordert Todesopfer
Die Zeltsiedlung unterhalb des Berges mit dem Mausoleum für König Nadir Schah (1883-1933), den vorletzten Monarchen Afghanistans, ist nur einer der vielen Orte in Kabul, wo Flüchtlinge aus anderen Teilen des Landes untergekommen sind. Oben auf dem Berg strahlt die restaurierte Kuppel des Mausoleums in einem grellen Silber, unten in den Zelten frieren die Menschen im härtesten Winter seit 15 Jahren.
Die ungewöhnlich lange Kältewelle hat in den vergangenen vier Wochen allein in Kabul mindestens 24 Menschen das Leben gekostet - die meisten Kälteopfer waren Kinder unter fünf Jahren, die als Vertriebene in Zelten in der Hauptstadt leben. In den vergangenen Jahren sind Tausende Afghanen vor dem Krieg zwischen den aufständischen Taliban und den NATO-Truppen in das relativ sichere Kabul geflohen.
Viele der Vertriebenen und Flüchtlinge leben in Notunterkünften über die Stadt verstreut. Nach Schätzung der Regierung sollen etwa 30.000 Familien - rund 300.000 Menschen - in Zelten leben, die nun besonders unter den eisigen Temperaturen und dem heftigen Schneefall leiden. Menschenrechtler warnen vor einer humanitären Katastrophe. Laut Amnesty International ist eine halbe Million Menschen in Afghanistan intern vertrieben. Jeden Tag kommen weitere 400 Flüchtlinge hinzu.
Warten auf die Hilfsorganisationen
"Wo sollen wir schon hin?", fragt Rugul. Die ethnische Paschtunin lebt seit sieben Jahren in Lagern. Ihre Familie sei aus der Heimat Dschalalabad vertrieben worden, sagt sie. "Es gab Streit zwischen verschiedenen Stämmen. Unser Land wurde uns weggenommen." Afghanistans Präsident Hamid Karsai habe nach dem Sturz des grausamen Taliban-Regimes Land für alle versprochen. "Darauf warten wir immer noch", sagt Rugul achselzuckend. Sie und ihre neun Kinder leben seither in Notsiedlungen wie in Schah Schahid.
Manchmal, so sagt Rugul, bringe eine Hilfsorganisation Decken oder Holz. Ab und an sei auch ein Arzt gekommen, um sich um die Kranken zu kümmern. Gerade in diesem eisigen Winter seien fast alle Kinder krank geworden, hätten Husten und Fieber bekommen. Doch vor etwa drei Monaten hätten die Hilfswerke aufgehört, in die Siedlung zu kommen.
Rugul versteht nicht, wieso. Gerade als der Winter begann, habe die Unterstützung aufgehört. Dabei seien Preise für Benzin, Holz und Kochgas so hoch wie nie. Der viele Schnee mache das Leben im Lager noch schwerer. Einige Zelte seien unter das Last kaputt gegangen.
"Tausende Menschen müssen in eisiger Kälte auf engstem Raum und ohne ausreichende Nahrung leben, während die afghanische Regierung wegschaut und sogar verhindert, dass ihnen geholfen wird", kritisiert Huria Mosadiq von Amnesty. Bei der Menschenrechtsorganisation glaubt man, dass die örtlichen Verwaltungen Hilfe zurückweisen, um das Entstehen dauerhafter Flüchtlingslager zu vermeiden. Deshalb drohe vielen Menschen der Kältetod. Rugul jedenfalls hofft, dass der Schneefall aufhört und der Frühling kommt.