Herr Bedford-Strohm, Sie sind jetzt seit 100 Tagen im Amt. Was hat Sie am meisten gefreut in der Zeit?
Heinrich Bedford-Strohm: Mich haben am meisten die vielen, sehr schönen Gottesdienste bewegt und die Begegnung mit den Menschen. In allen Kirchenkreisen habe ich schon eine Antrittspredigt gehalten. Die Menschen freuen sich natürlich, dass der Landesbischof kommt - besonders der neue, auf den sie neugierig sind. Die Kirchen waren bisher auch immer voll. So etwas beflügelt mich. Ich gehe aus solchen Gottesdiensten gestärkt und froh wieder raus.
Was haben Sie in den ersten 100 Tagen schon in Gang gesetzt?
Bedford-Strohm: Zuerst einmal wollte ich hinhören. Ich wollte nicht herkommen mit der Attitüde "Jetzt wird alles anders gemacht", sondern ich wollte erspüren, wie die Prozesse hier laufen, was die Menschen fühlen und brauchen. Konkret ist das Internet für mich ein wichtiges Thema, das ich vorantreiben will. Ich habe als Landesbischof jetzt auch eine Facebook-Seite, die sehr intensiv wahrgenommen wird. Ich nehme auch selbst viel mit von der Seite: Ich schreibe mir auf, was an Impulsen und Kommentaren kommt.
Sind Sie auch privat ein Facebook-Nutzer?
Bedford-Strohm: Relativ mäßig. Ich nutze Facebook sehr privat im Kreise der Familie und einiger weniger Freunde. Es ist praktisch, weil meine Kinder auf der Welt verstreut sind - ein Sohn ist in Südafrika, der andere in den USA. Auf Facebook kann ich dann direkt neue Fotos von meinen Kindern sehen. Ein bisschen Alltagskommunikation ist auch dabei - aber alles wirklich in einem sehr privaten Rahmen. Um das aufrecht zu erhalten, muss ich Freundschaftsanfragen, die darüber hinausgehen, ignorieren.
"Wir müssen uns gegenüber
Kreisen öffnen,
die mit Kirche erst mal nichts zu tun haben"
Können Internet, Facebook oder Twitter helfen, das "altbackene Image" der Kirche loszuwerden?
Bedford-Strohm: Es ist wichtig, dass wir uns gegenüber Kreisen öffnen, die mit Kirche erst mal nichts zu tun haben und sich bei uns noch nicht zuhause fühlen. Ich möchte nicht von ihnen erwarten, dass sie sich einfach an uns anpassen. Vielmehr müssen wir uns selbst verändern im Gespräch mit den Menschen in der Gesellschaft mit all ihren verschiedenen Milieus und Gruppen. Davon können wir als Kirche lernen und profitieren. Das heißt: öffnen, frischen Wind reinbringen und Kirche spannend machen - das ist mir ein großes Anliegen.
Haben Sie es schon einmal bereut, Landesbischof geworden zu sein?
Bedford-Strohm: Nein, zu keinem Zeitpunkt. Ich habe zwar lange gebraucht, um mich für eine Kandidatur zu entscheiden. Doch danach habe ich diesen Schritt nie bereut. Es ist mir ungeheuer wichtig, dass wir die Ausstrahlungskraft des christlichen Glaubens heute deutlich machen. Ich bin davon überzeugt, dass der christliche Glaube Menschen, egal woher sie kommen, ganz viel zu sagen hat. Und dass ich das jetzt zu meinem Hauptberuf machen darf - vom christlichen Glauben überall zu erzählen und mit Menschen ins Gespräch zu kommen -, das empfinde ich als großes Geschenk. Natürlich arbeite ich viel, und meine Arbeitstage sind sehr lang. Aber ich empfinde das bisher nicht als Last.
Als Hauptgrund für Kirchenaustritte sehen Sie die zunehmende Individualisierung. Gehört aber nicht gerade das individuelle Verhältnis von Mensch zu Gott zu den theologischen Grundlagen der evangelischen Kirche?
Bedford-Strohm: Die von mir angesprochene Individualisierung verstehe ich an dieser Stelle nicht theologisch und natürlich erst recht nicht als Automatismus zum Kirchenaustritt. Der Begriff meint, dass die Menschen heute zumeist frei wählen können, welcher Kirche oder Religion sie angehören wollen - ohne die früheren sozialen oder familiären Zwänge. Sie entscheiden sich also dann für die Kirche, wenn sie von ihr und dem christlichen Glauben überzeugt sind.
Deshalb hat die Mitgliedschaft in einer Kirche heute als bewusste individuelle Entscheidung einen ganz anderen Stellenwert als vielleicht noch vor 50 Jahren. Umso höher ist zu bewerten, dass rund 50 Millionen Menschen in Deutschland sich aus Freiheit nach wie vor entscheiden, Mitglied in der Kirche zu sein. Trotzdem bleibt natürlich jeder einzelne Kirchenaustritt schmerzlich, weil es uns offensichtlich in diesen Fällen nicht gelungen ist, die Kraft des christlichen Glaubens so darzustellen, dass die Menschen sich für die Kirche entscheiden.
"Ich halte Inklusion für ein
sehr zentrales Thema -
es ist auf keinen Fall ein Modethema"
Sie haben jahrelang in einer Behindertenwerkstatt gearbeitet. Das Thema Inklusion liegt Ihnen besonders am Herzen.
Bedford-Strohm: Ich halte Inklusion für ein sehr zentrales Thema - es ist auf keinen Fall ein Modethema. Gerechte Teilhabe ist für behinderte Menschen ein ganz wesentlicher Punkt, weil sie durch äußere Hürden in vielen Bereichen ausgeschlossen sind. Man muss sich in die Perspektive dieser Menschen einmal hineinversetzen, damit einem die Augen geöffnet werden. Wir müssen verstehen, was es bedeutet, ausgeschlossen zu sein. Ich bin ja selbst in einer Behindertenwerkstatt tätig gewesen und habe mitbekommen, wie viel Offenheit da ist. Wenn Bahnhöfe umgebaut werden, ist da zum Glück immer eine Stimme, die darauf hinweist, dass auch Menschen mit Behinderung Zug fahren. Wir haben in Deutschland einen Standard, hinter den wir nicht zurückfallen sollten, aber über den wir uns auch freuen können.
Wie sieht es mit der Umsetzung der UN-Behindertenkonvention an Schulen aus? Da wird ja Kritik auch vonseiten der Diakonie laut, dass durch zu viel Inklusion behinderte Schüler überfordert werden.
Bedford-Strohm: Man muss sehr genau hinschauen, wann das Bemühen um Inklusion zu kontraproduktiven Effekten führt, etwa behinderte Menschen in integrierte Klassen gegeben werden, obwohl sie dann nicht die Förderung bekommen, die sie brauchen. Auf der anderen Seite ist der Perspektivwechsel ganz wichtig, der für integrierte Schulklassen spricht: nämlich dass die Kinder lernen, dass behinderte Menschen ganz normale Menschen sind, die man genauso schlecht und gut behandelt, wie Menschen ohne Behinderung. Jemanden mit Samthandschuhen anzufassen, kann auch ein Ausdruck mangelnder Teilhabe sein.
Die Präimplantationsdiagnostik (PID) ist in Deutschland grundsätzlich verboten, nur in Ausnahmefällen ist sie erlaubt. Jetzt sollen spezielle PID-Zentren entstehen. Wie sieht Ihre Meinung dazu aus?
Bedford-Strohm: Ich habe schon vor zehn Jahren Aufsätze geschrieben, in denen ich kritisch die Argumente dafür und dagegen geprüft habe. Ich bin damals zu dem Ergebnis gekommen - und das ist heute nicht anders -, dass die Zulassung der PID in Ausnahmefällen nicht richtig ist. Dass Befürworter und Gegner mit großer Ernsthaftigkeit miteinander diskutiert haben, dass wir eine zivilgesellschaftliche Debatte um das Thema hatten, ist aber etwas, was ich als große Stärke unserer politischen Kultur in Deutschland erlebt habe. Ich respektiere die Menschen, die für eine beschränkte Zulassung der PID eingetreten sind. Das sind genauso ethisch denkende Menschen, die von ihren bestimmten Erfahrungen geprägt sind. Zum Beispiel Ärzte, die mit den Betroffenen direkt zu tun haben.
Auch wenn die Entscheidung des Bundestags nicht dem entspricht, was ich mir gewünscht hätte, würde ich kein "Alarmszenario" aufmalen. Denn ich sehe in den PID-Zentren und den engen Regulierungen nicht die Gefahr, dass wir "Designer-Babys" herstellen. Nach meiner gegenwärtigen Wahrnehmung ist es ganz klar, dass im Rahmen unserer politischen Kultur alle Versuche, diese eng begrenzten Kriterien aufzuweichen und am Ende doch Geschmacksentscheidungen über Kinder zu treffen, von vornherein in unserer Gesellschaft indiskutabel sind. Wir als Kirchen werden jedenfalls alles dazu tun, dass das so bleibt.
Heinrich Bedford-Strohm (52) ist systematischer lutherischer Theologe seit November 2011 bayrischer Landesbischof. Er ist verheiratet und hat drei Söhne.