Wenn die Tiere Trauer tragen: Ein Abschied im Elefantenhaus

Wenn die Tiere Trauer tragen: Ein Abschied im Elefantenhaus
Das Kleine liegt tot auf dem Boden, die Beine von sich gestreckt, leblos. Die Großen stehen davor, still, verwirrt. Eine Szene aus dem Elefantenhaus im Münchener Zoo. Das Elefantenbaby Lola ist gestorben, und ihre Herde trägt Trauer.
23.01.2012
Von Anne Kampf

Mit den Rüsseln versuchen die erwachsenen Elefanten immer wieder, Lola zu berühren, als ob sie sie aufwecken wollten - oder "Auf Wiedersehen" sagen. Das Team des Tierparks Hellabrunn hat den Leichnam des Babys, das am vergangenen Wochenende kurz vor einer geplanten Herzoperation an einer Lungenembolie gestorben ist, wieder zurück ins Elefantenhaus gebracht. Die Tierpfleger wissen, dass Elefanten den Abschied brauchen. Vor allem Lolas Mutter, die 22-jährige Elefantenkuh Panang.

Ein Forscherteam hat in der Savanne von Kenia ähnliche Szenen beobachtet und sogar gefilmt: Ein weibliches erwachsenes Tier liegt tot auf dem Boden, ihre Herde kommt langsam auf den Leichnam zu, stupst die Elefantendame mit den Stoßzähnen an. Ein Bulle versucht mit all seiner Kraft, die Tote zum Aufstehen zu bewegen. Stundenlang hält die Herde Totenwache, zieht sich zurück - und kommt wieder.

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Trauerszenen sind vor allem bei Elefanten und bei Primaten zu beobachten. So tragen Gorillamütter, deren Junges gestorben ist, das Baby tagelang mit sich umher, wollen es nicht loslassen. Nach dem Tod einer Schimpansendame in einem Park in Westafrika versammelte sich die ganze Gruppe zu ihrem letzten Geleit, die Affen beobachteten den Abtransport der Toten, legten die Arme umeinander und schwiegen – wie bei einer Beerdigung. Auch monogam lebende Vögel trauern um ihre verstorbenen Gatten: So musste vergangene Woche eine Bahnstrecke bei Stralsund gesperrt werden, weil ein Schwan sich weigerte, von der Seite seiner toten Gefährtin zu weichen, die auf dem Gleis lag.

"Ich denke, manche Tiere verstehen den Tod"

"Tiere sind sehr anhänglich, manche sogar so stark, dass sie starke Reaktionen zeigen, wenn eines von ihnen stirbt", sagt der niederländische Zoologe und Verhaltensforscher Frans de Waal, der am Yerkes Primate Center in Atlanta forscht. "Dem liegt nicht notwendigerweise ein Verständnis des Todes zugrunde, sondern es ist eine negative Reaktion auf einen Bruch. Das Tier vermisst jemanden. Ich denke, manche Tiere verstehen den Tod. Sie verstehen, dass wenn ein anderes Individuum aufgehört hat zu atmen und sich zu bewegen, dass dies eine bleibende Veränderung bedeutet, und das macht sie sehr bekümmert."

Trauer besteht aus zwei Komponenten, erklärt der Biologe und Theologe Rainer Hagencord, der in Münster das Institut für Theologische Zoologie gegründet hat. Da ist zum einen die Emotionalität: "Die Gefühlswelt eines Goldhamsters ist natürlich anders als die eines Schimpansen", Forschungen mit Primaten hätten allerdings gezeigt, "dass diese Tiere letztlich über das ganze Gefühls- und Verhaltensrepertoire verfügen, das wir Menschen auch haben: innige Liebe, Zuwendung, Trauer, Mordlust, Überfall, Vergewaltigung." Primaten haben bisweilen Schwierigkeiten, den Tod eines Artgenossen zu bewältigen: "Manche Tiere hören nach dem Verlust eines anderen auf zu essen", berichtet Frans de Waal, "und das ist mit Sicherheit eine starke Reaktion."

Die andere Komponente der Trauer ist die der Sozialkompetenz. Bei Elefantenherden ist sie besonders stark ausgeprägt. Die Tiere wissen um einander, kennen einander. Jeder Elefant entwickelt eine Persönlichkeit und übt eine Funktion in der Gruppe aus - auch deshalb ist der Verlust so schmerzlich, wenn einer stirbt. Diese Beobachtungen bedeuten allerdings nicht, dass trauernde Tiere wie trauernde Menschen sind. Ein wesentlicher Unterschied: Tiere haben keine Trauerrituale, also "keine Bestattungen, Grabbeigaben oder Tänze."

Tiere haben keine Kultur oder Religion

Rituale, so erklärt Rainer Hagencord, "gehören in das Feld, das man Kultur nennt. Eine Kultur oder Philosophie oder Religion entsteht ja erst dann, wenn der Faktor Zeit eine Rolle spielt, das heißt wenn ein Individuum oder eine Gesellschaft sich die Frage stellt: 'Was ist denn übermorgen? Was ist nach diesem Winter? Was ist nach dem Tod eines Clan-Genossen?' Dann kommen erst die Sinnfragen ins Spiel und die Frage: 'Wie bewältigen wir die Zukunft?'" Auch der Gedanke an den eigenen Tod gehört in diesen Zusammenhang. Frans de Waal erklärt vorsichtig: "Ob Tiere von ihrer eigenen Sterblichkeit wissen, ist eine ganz andere Frage, und wir haben keine Erkenntnis darüber, ob sie es tun."

Tiere sind keine vereinfachten Menschen. Es ist streng genommen ein methodischer Fehler, ihre Art zu trauern mit menschlichen Begriffen - also anthropomorphistisch - zu beschreiben. "In der Verhaltensbiologie ist mit ein Begriff wichtig geworden", erzählt Rainer Hagencord von seinem Studium: "nämlich 'the animal's point of view'. Es gilt, aus dem Blickwinkel des Tieres bestimmte Dinge zu verstehen." Dazu gehöre, zu beschreiben, in welchem Ökosystem - zum Beispiel im Regenwald oder in einem Korallenriff - ein Tier sich in einer bestimmten Weise verhält, und in welchem Sozialverband welches Verhalten sinnvoll ist.

Aus dem "animal's point of view", dem Blickwinkel des Tieres, war es genau richtig, der Elefantenherde im Münchner Zoo den Leichnam der kleinen Lola zurückzubringen, meint Hagencord. "Unter dem Aspekt, dass die Tiere hochsozial leben, ist es sicherlich sinnvoll, dass ein Abschied und eine Trauer möglich ist." Die Tiere stehen noch eine Weile still vor dem Baby, streicheln es mit ihren Rüsseln. Ob sie nun verstehen, was der Tod ist oder nicht - auf jeden Fall empfinden die großen Elefanten Schmerz darüber, dass die kleine Lola nicht mehr lebt. 


Anne Kampf ist Redakteurin bei evangelisch.de und zuständig für die Ressorts Politik und Gesellschaft.