Der Morgen nach der Demonstration: Um 4 Uhr 57 fliegt der Airbus A330 über Hanau, knapp 1200 Meter hoch und 64 Dezibel laut. Das entspricht einer normalen Unterhaltung, der man aus einem Meter Entfernung zuhört. Die zweistrahlige Maschine der China Eastern Airlines fliegt weiter, über Offenbach und das dortige Klinikum hinweg, und erreicht um 4 Uhr 59 das Frankfurter Stadtgebiet; über dem Ortsteil Oberrad ist sie 920 Meter hoch und 69 Dezibel laut. Das ist, wie wenn ein Staubsauger in einem Meter Entfernung saugt.
Sekunden später steuert die Maschine aus Shanghai auf die Bergkirche der Dreikönigsgemeinde in Frankfurt-Sachsenhausen zu, noch 800 Meter hoch und 73 Dezibel laut. Das ist, wie wenn man fünf Meter neben einer viel befahrenen Straße steht. Als der Airbus gelandet ist, kündigen sich die nächsten Maschinen schon mit einem heulenden Geräusch an, das in ein Dröhnen mündet. Bis 23 Uhr am Abend wird das so weitergehen.
Das große Transparent am Turm der Bergkirche können die Piloten in den Flugzeugen natürlich nicht lesen, es ist ja auch für die Menschen hier unten in Sachsenhausen gedacht. "Und wenn wir auch müde sind, lässt man uns doch keine Ruhe." Mit dem Vers aus den Klageliedern der Bibel, gedruckt auf ein acht Meter langes und 2,60 Meter breites Banner, will die Gemeinde den Menschen am Sachsenhäuser Berg zeigen, dass sie nicht allein sind.
Der Protest gegen die Nordwestlandebahn am Frankfurter Flughafen, am 21. Oktober vergangenen Jahres von Bundeskanzlerin Angela Merkel eröffnet, hat die Kirchen erreicht. Im Rhein-Main-Gebiet wächst die Protestwelle, und wie schon bei den Protesten gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 sind die Politiker über die Wut der Bürger erstaunt.
Aus Dutzenden Gegnern wurden Tausende
Silke Alves-Christe ist Pfarrerin in der Dreikönigsgemeinde. Erst im September ist sie mit ihrem Mann ins Pfarrhaus an der Bergkirche gezogen, zuvor hatten sie für die Badische Landeskirche gearbeitet. Es könne ab Oktober etwas lauter werden, hatten die Leute beim Einzug gesagt. Wie viele Menschen hier wurde die Pfarrerin überrascht, wie heftig die neue Bahn genutzt wird. "Ich bin es gewohnt, mit offenem Fenster zu schlafen – aber das ist vorbei."
Frankfurter Demonstration gegen Fluglärm im Dezember 2011. Foto: dpa/Fredrik von Erichsen
Jetzt, an diesem Montagabend, als der Airbus aus Shanghai, der viele Menschen am nächsten Morgen wecken wird, schon auf dem Weg nach Frankfurt ist, steht sie an am Südbahnhof und wartet auf den Bus zum Flughafen. Es ist die erste Demonstration nach der Weihnachtspause, die Pfarrerin ist gespannt. Wird der Protest stärker? Oder nimmt er ab? Zur ersten Monatagsdemonstration im Terminal waren im November 400 Menschen gekommen, zur letzten vor Weihnachten waren es 5000.
Der Bus ist erfüllt von Gesprächsfetzen. "Es geht ja nicht nur um den Lärm, bei uns stinkt es nach Kerosin." Eine Sitzreihe weiter kreist die Unterhaltung um Flughöhen. 800 Meter? Das werde ja vom Meeresspiegel aus berechnet, der Sachsenhäuser Berg sei etwa 150 Meter hoch, dann seien es kaum mehr als 600 Meter, die zwischen Flugzeugen und Häusern liegen.
Silke Alves-Christe - kurze Haare, konzentrierter Blick, modische Brille - kennt diese Debatte. Wie viele im Bus ist sie seit Oktober zur Expertin in Sachen Flughafenausbau geworden. Ihre Worte wählt sie mit Bedacht. Dem Argument, die Region brauche doch die vielen Arbeitsplätze am Flughafen – der Fraport-Chef Stefan Schulte spricht von 70000 Jobs -, entgegnet sie: "Es geht doch oft um Arbeitsplätze im Niedriglohnbereich, die Leute können sich damit nie eine vernünftige Rente erarbeiten."
Kein Schlaf mehr ab fünf Uhr früh
Der Bus erreicht den Terminal 1, die Leute strömen aufs Gebäude zu, es ist schon kurz nach 18 Uhr, dem Demobeginn. Durch eine Glasfront ist zu sehen, dass sich Menschen auf einer Rolltreppe drängen. "Es sind bestimmt nicht weniger als vor Weihnachten", sagt die Pfarrerin. Und lächelt. Es lächeln viele hier, unter der riesigen Anzeigentafel, die doch zu klein ist, um alle Abflüge an diesem Montagabend aufzulisten. In vielen Gesichtern spiegelt sich neben der Wut auch die Erleichterung wider, dass sich auch andere Menschen gestört fühlen, dass sie nicht allein sind.
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Silke Alves-Christe kennt dieses Gefühl: Bin ich zu empfindlich? Ist der Lärm gar nicht so schlimm? Ihre Kirchengemeinde erstreckt sich vom Main bis hoch zum Sachsenhäuser Berg. Unten am Main bekommen die Leute von den Flugzeugen nicht viel mit, sagt die Pfarrerin. Viele ältere Leute, die schon seit Jahrzehnten mit dem Flughafen leben, regen sich ebenfalls nicht auf. "Die sagen, dass sie dann eben ihre Hörgeräte rausnehmen." Die Pfarrerin berichtet von Familien, durch die ein Riss geht. "Der eine Partner kann schlafen, der andere kommt seit Wochen ab fünf Uhr nicht mehr zur Ruhe und besteht auf einem Umzug." Aber je näher es an die neue Einflugschneise an der Bergkirche geht, desto mehr dominiert der Krach der Maschinen die Gespräche.
Seit Jahren schon nutzt die BIS, die Bürgerinitiative Sachsenhausen, die Räume der Gemeinde an der Bergkirche. Bis Oktober kamen 20 bis 40 Leute zu den Treffen, mit Eröffnung der Nordwestlandebahn standen auf einmal an die 300 Bürger vor der Tür. Die Pfarrerin zögerte nicht und lotste die Menschen in die Kirche, damit alle Platz hatten. Ähnlich war es im benachbarten Oberrad, wo 700 Einwohner in die Kirche strömten.
Silke Alves-Christe sagt, die Leute seien dankbar, weil sie die Kirche geöffnet habe. Sie und ihr Mann, ebenfalls Pfarrer, sind in die Offensive gegangen, der Lärm war schon Predigtthema, in den Fürbitten spielt er immer eine Rolle. Oft an diesem Abend nickt sie Bekannten aus ihrem Stadtteil zu.
"Der Himmel gehört nicht Fraport"
In die Kirchengemeinden um den Flughafen kommt Bewegung. Schon im Dezember hat Eva Reiß, Dekanin in Offenbach, zu den Demonstranten gesprochen. Ein Großteil des Stadtgebietes der 120.000-Einwohnerstadt Offenbach am Main liegt unter einem Lärmteppich: "Wir mischen uns ein, wir demonstrieren und debattieren, wir werden laut, denn wir glauben: Der Himmel gehört nicht Fraport. So steht es am Kirchturm in Flörsheim und bald auch an Kirchtürmen in Offenbach."
Seit dem Buß-und Bettag prangt an der evangelischen Kirche in Flörsheim ein Protestbanner. Foto: Hans Genthe
Kirche und Politik, diese Verbindung war immer umstritten. Silke Alves-Christe hat dazu eine klare Haltung. "Es wird oft gesagt, Kirche soll nicht politisch sein – ich finde, sie soll nicht parteipolitisch sein." Politik, der Begriff hänge doch zusammen mit dem Wort "Polis", die Stadt. In der Bibel steht: Suchet der Stadt Bestes. "Und das kann ja nicht dieser Dauerlärm sein."
Der Demonstrationszug hat sich nun auf dem Weg durchs Terminal gemacht. Immer wieder stimmen die Leute Sprechchöre an, auch Silke Alves-Christe ruft mit. "Die Bahn muss weg!" Das sei zwar ein sehr großes Ziel, gibt sie zu. Sie wünscht sich eine befristete Stilllegung, bis die Flugrouten optimiert und die Lärmschutzmaßnahmen für die Betroffenen umgesetzt sind. "Das ist das Würdelose, dass sie die Bahn eröffnet haben, ohne die Menschen vorher vor dem Lärm zu schützen", sagt die Pfarrerin und hält ihr Plakat hoch. "Die Würde des Menschen ist unantastbar" steht darauf.
An einem First-Class-Schalter der Lufthansa hat ein Mitarbeiter Ohrenschützer aufgesetzt, wie sie Bauarbeiter tragen. Vor dem Schalter stehen zwei Polizisten, ein Mann geht auf sie zu und schreit sie an. "Wir wollen unsere Ruhe!" Der Lufthansa-Mitarbeiter hört es nicht, nur die Kunden blicken ihn und den Demonstrationszug irritiert an. Die Polizisten beruhigen den Mann, wechseln freundlich ein paar Worte mit ihm. Dann geht er weiter.
Familien mit Kindern ziehen weg
Auffällig ist: Wie in Stuttgart protestiert hier die bürgerliche Mitte, die Leute sind wütend, aber sie zügeln den Protest. Gerade das aber ist gefährlich für die Parteien, die um die Mitte buhlen. Ein Vorgeschmack darauf, was im Umland von Berlin zu erwarten ist, wenn Anfang Juni der Großflughafen Berlin-Brandenburg International öffnet? Oder wenn am Flughafen München mit der Erweiterung um eine dritte Bahn ernst gemacht wird?
Angst, dass die immer größer werdenden Proteste gewalttätig werden, hat Pfarrerin Alves-Christe nicht. Zu klar seien die Erinnerungen daran, dass es damals in den 80er Jahren bei den Auseinandersetzungen um die Startbahnwest sogar Tote gab.
Eine Möglichkeit bleibt den Lärm-Betroffenen: umziehen. Rund um den Sachsenhäuser Berg ist das ein großes Thema, vor allem unter den Jüngeren. In Taufgesprächen sagen viele Eltern: "Bald wird unsere Wohnung sowieso zu klein. Wir wären hier gern geblieben, aber bei diesem Lärm suchen wir uns anderswo etwas Neues." Eine Mutter von drei kleinen Kindern, die den Kindergarten der Gemeinde besuchen, hat der Pfarrerin berichtet, die Kleinen seien seit Eröffnung der Landebahn deutlich aggressiver. "Aber was wird aus dem Stadtteil, wenn die Jungen weggehen?", fragt Silke Alves-Christe.
Für sich weiß die Pfarrerin die Antwort: Sie will bleiben.
Nils Husmann ist chrismon-Redakteur.