Die Zahl der sogenannten Ehrenmorde wird nach Ansicht des Psychologieprofessors Jan Ilhan Kizilhan zunehmen, weil sie ursächlich aus einem Generationenkonflikt resultieren. "Es kommt zu ihnen, wenn alte und neue Wertevorstellungen miteinander kollidieren", sagt Kizilhan, der an der Universität Freiburg die Arbeitsgruppe Migration und Rehabilitation leitet und in einer Studie die Motivation von Ehrenmördern untersucht hat.
Für seine Studie hat Kizilhan 21 türkischstämmige Männer befragt, die in Deutschland wegen eines Ehrenmordes im Gefängnis sitzen. Er fragte unter anderem nach der Kindheit, nach dem Ablauf der Tat und den Motiven für den Ehrenmord. Die Antworten verglich er mit denen von Menschen, die aus anderen Gründen Gewalt ausgeübt oder sogar getötet hatten, wie etwa Raubmördern. Der wichtigste Unterschied: "Ehrenmörder wissen, dass sie etwas falsch machen. Es ist durchaus ein hohes Maß an Reflektion da. Aber am Ende wird die Wertvorstellung von Ehre höher eingeschätzt als die Gefahr, in Haft zu kommen oder gar getötet zu werden."
Traditionelle und patriarchalische Wertvorstellungen
Wer einen Ehrenmord begeht, sei demnach zunächst einmal natürlich Täter, handele aber aus einem verinnerlichten Generationenkonflikt unter den türkischen Migranten heraus, so Kizilhan. "Die vierte Generation übernimmt die Macht unter den Migranten und die erste Generation will diese nicht abgeben." Dabei sind es laut Kizilhan vor allem ältere Migranten, unter denen traditionelle und patriarchalische Wertvorstellungen herrschen - wie etwa die, dass eine Scheidung oder Trennung den Verlust der Ehre bedeutet und diese nur durch einen Mord wiederhergestellt werden kann.
Diese Vorstellungen versuchten die Älteren auf die Jüngeren zu übertragen, so Kizilhan. Und immer wieder gebe es Menschen, die sich instrumentalisieren ließen: Begangen werden die Morde laut Kizilhan zum überwiegenden Teil von Migranten der dritten und vierten Generation. Dies allerdings auch nur solange, bis die türkische Gesellschaft ihren Wandel abgeschlossen hat - sowohl in der Türkei wie unter den Migranten im Ausland: "Ich erwarte eine Phase von zehn bis 15 Jahren, in der die Zahl solcher Morde ansteigt. Danach müsste sie wider rückläufig sein."
Polizisten, Schulen und Imame könnten gegensteuern
Bislang sind laut Kizilhan 55 sogenannte Ehrenmorde in Deutschland zweifelsfrei nachgewiesen, vermutlich gibt es eine hohe Dunkelziffer. Gegensteuern ließe sich der Gewalt mit einer fachkundigen Herangehensweise, sowohl seitens der Behörden wie von Migrantenorganisationen. Eine entsprechende Schulung würde Polizisten helfen, potenzielle Gewalttäter besser einschätzen zu können. "Die Polizisten müssen die Motive eines potenziellen Ehrenmörders besser verstehen und einordnen können, ob ein Mensch zu so einer Tat fähig ist", sagt der Psychologe. Auch in der Schule müsste das Thema viel stärker angesprochen werden.
Weniger Hoffnung setzt Kizilhan auf die großen Dachverbände von Migrantenorganisationen: Diese hätten oft keinen direkten Einfluss auf die Menschen. Vielmehr setzt er auf die direkte Ansprache in Kulturvereinen oder in der Moscheegemeinde. "Mein Wunsch ist, dass Imame der einfachen Bevölkerung klarmachen, dass ein solcher Mord nichts mit Religion zu tun hat", betont Kizilhan.