Protestbewegungen: Auch Christen sollen sich einmischen

Protestbewegungen: Auch Christen sollen sich einmischen
Die Finanzkrise treibt Bürger auch in Europa auf die Straße. Sie wollen beteiligt werden und das Feld nicht der Politik alleine überlassen. Wer macht bei dieser neue Protestbewegung mit? Was sind Ihre Ziele und wohin steuert sie?
25.10.2011
Von Jürgen Klute

Die seit geraumer Zeit entstehenden Protestbewegungen in verschiedenen Ländern Europas und den USA – Indignados (die Empörten) in Spanien, Occupy-Bewegung in den USA und in Deutschland – müssen wohl verstanden werden als eine zeitversetzte zivilgesellschaftliche Reaktion auf die Finanz- und Bankenkrise von 2008. Auf die Krise von 2008 haben die Bürger und Bürgerinnen noch nicht direkt reagiert. Sie haben sich offenbar noch darauf verlassen, dass die Politik so agiert, dass die Krise bald überwunden ist.

Die Schuldenkrise bedroht auch die Mittelschicht

Nun hat sich aber gezeigt, dass die Krise noch immer nicht vorüber ist. Die Bemühungen um eine erneute Regulierung der Finanzmärkte sind langsam und zeigen derzeit noch kaum bis gar keine Wirkung. Und das Agieren der Regierungen der EU-Mitgliedsländer verschärft sogar noch die Krise. Was Bürgerinnen und Bürger – vor allem in Europa – mitbekommen, ist, dass die Banken staatlich gestützt wurden, Gehälter und Gewinne im Finanzsektor wieder sprudeln, die öffentlichen Kassen jedoch zwischenzeitlich ausgetrocknet sind. In Griechenland, Spanien, Portugal und Irland hat die Bankenrettung zu einer gigantischen Sparpolitik geführt, die Lohn- und Renteneinbußen, Arbeitsplatzabbau in großem Umfang und nicht zuletzt einen erheblichen Einbruch des Wirtschaftswachstum zur Folge gehabt hat.

Die EU wird mehr und mehr zur Verfügungsmasse von Merkel und Sarkozy und damit der demokratisch-parlamentarischen Kontrolle entzogen. Und die zurückliegende Serie von EU-Krisengipfeln haben die jeweils in Aussicht gestellten Wirkungen bisher nicht erzielt. Kommt es nun noch zu Schuldenschnitten, dann kann das vor allem die Mittelschichten heftig treffen. Denn der Finanzmarkt arbeitet ja in großem Maße mit den Geldern der Lebens- und privaten Rentenversicherungen und mit den Spareinlagen der Mittelschichten. Sie dürften von den jetzt diskutierten Schuldenschnitten in jedem Fall mitbetroffen sein.

Das vor diesem Hintergrund Bürgerinnen und Bürger sich in die politische Debatte einbringen wollen, überrascht nicht nur nicht, sondern ist ein sehr zu begrüßender und hoffnungsvoller Schritt.

Bürger fordern Beteiligung ein

Wer jedoch die Protestierenden genau sind, ist nicht so einfach zu sagen. Offensichtlich sind es überwiegend Bürgerinnen und Bürger, die bisher nicht oder eher selten auf Demos zu sehen waren. Ein erheblicher Teil scheint eine gute Ausbildung durchlaufen zu haben und sieht sich nun mit Arbeitslosigkeit und prekären Jobangeboten konfrontiert. Politisch scheinen keineswegs alle das bestehende Wirtschaftssystem grundsätzlich in Frage zu stellen, wohl aber halten sie tiefgreifende Korrekturen für nötig. Sie fordern ihren Platz im System ein, was heißt, dass sie am gesellschaftlichen Wohlstand beteiligt werden wollen. In diesem Sinne fordern sie Veränderungen im Finanz- und Bankensektor.

Aber es geht nicht nur um Beteiligung am Wohlstand. Da die verantwortlichen Politikerinnen und Politiker ganz offensichtlich nicht schnell genug und nicht entschieden genug dem Finanzsektor Grenzen ziehen, fordern die Protestbewegungen auch neue demokratische Beteiligungsformen. Und sie selbst experimentieren damit. In diesem Sinne hat die Occupy-Bewegung im übrigen auch Berührungspunkte mit dem so genannten arabischen Frühling.

Klassische Gruppen wie Gewerkschaften, Parteien, kirchliche Gruppen und Nicht-Regierungs-Organsiationen sind bisher nur am Rande an dieser globalen Protestbewegung beteiligt. Sie machen teils auch die Erfahrung schroffer Zurückweisung seitens der Occupy-Bewegung. Partei- oder Gewerkschaftsfahnen, aber auch deren Flyer und Flugblätter werden auf den Protestveranstaltungen bisher nicht geduldet. Die traditionellen, eher hierarchischen Organisationsformen von Parteien und Gewerkschaften sowie deren programmatischen und relativ abgeschlossen Antwortkataloge auf die Probleme der Welt passen nicht zu der demokratischen Experimentierfreude und dem offenen programmatischen Suchprozess der neuen Bewegung.

Kirchliche Basisgruppen müssen sich einmischen

Wobei letzteres durchaus seine Schattenseiten hat, die sich bereits zeigen: Rechte Gruppen sehen hier ein für sie günstiges Betätigungsfeld. Die Occupy-Bewegung muss sich deshalb über kurz oder lang um eine entsprechende Positionierung bemühen und Abgrenzungen nach rechts vornehmen. Wenn sie das versäumt, dann korrumpiert und konterkariert das ihre berechtigten Forderungen nach einer Überwindung der gesellschaftlichen Spaltungen, nach Beteiligung aller am gesellschaftlichen Reichtum, und nach neuen und umfassenderen demokratischen Beteiligungsformen an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen.

Aus sozialethischer Sicht formulieren die neuen Protestbewegungen Forderungen, die im Sozialwort der evangelischen und katholischen Kirche von 1997 eine zentrale Rolle spielen, wie auch in ähnlichen Stellungnahmen von Kirchen in den USA und in Österreich aus den 1980er und 1990er Jahren. Von daher wäre es wünschenswert, wenn sich auch kirchliche Gruppen und Gemeinden – auf gleicher Augenhöhe und mit großer Offenheit für Experimentierfreude – in die neuen Protestbewegungen einbrächten und zu deren Stärkung beitrügen. Die Politik hat es nämlich dringend nötig, dass ihr Blick weggezogen wird von den Interessen der Finanzmärkte und hingelenkt wird auf die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger.


Jürgen Klute (Die Linke) ist Mitglied des Europäischen Parlamentes und war Sozialpfarrer im Kirchenkreis Herne von 1989 bis 2006.