Internet: Verlorene Heimat und bedrohte Identitäten

Internet: Verlorene Heimat und bedrohte Identitäten
Ein Jahr im Internet ist angeblich so lang wie sieben Jahre im realen Leben. Dieser Spruch ist vielleicht fast so alt wie das Netz selbst. Er besagt nichts anderes, dass die technische Entwicklung im Netz viel schneller als in anderen technischen Bereichen voranschreitet.
24.10.2011
Von Christiane Schulzki-Haddouti

Doch der scheinbar rasende Fortschritt verbirgt, dass es in den letzten fünfzehn Jahren vor allem eine große Veränderung gegeben hat: Statt uns auf persönlichen Homepages einzurichten und über Mailinglisten auszustauschen, unterhalten wir uns heute lieber über ein Profil in einem sozialen Netzwerk, das von einem Unternehmen unterhalten wird. Die Abhängigkeit von Firmen, die über die Art und Weise der Kommunikation bestimmen, lässt nun langsam eine Gegenbewegung entstehen.

Die Anfänge waren zu akademisch

Eine frühe Metapher für das Netz war die der digitalen Bibliothek: Im Netz konnte man alle möglichen Texte und Bilder veröffentlichen und über Hyperlinks zu Hyptertexten verknüpfen, die miteinander vernetzt zu großartigen Texträumen anwachsen würde. Der Medienkünstler und –theoretiker Heiko Idensen beispielsweise setzte diese Gedanken mit seiner "imaginären Bibliothek" um. Doch diese Vorstellung war so manchem Nutzer zu abstrakt, zu akademisch. Viele der frühen Internet-User suchten den Austausch mit Gleichgesinnten – und das bestimmt auch heute noch die Richtung der Netzentwicklung.

Vielleicht war deshalb Ende der 90er Jahre die Vorstellung von den "digitalen Städten" so populär. 1994 hatten David Bohnett und John Rezner einen Webhost unter dem Namen "Beverly Hills Internet" gegründet, der ein Seitenverzeichnis erstellte, in dem Homepages virtuellen Städten zugeordnet wurden. Daraus wurde Geocities. Die Idee dahinter war die von virtuellen Nachbarschaften, von digitalen Gemeinschaften, die sich nahe standen. Auch der Webhoster AOL bot mit seinem Angebot AOL Hometown die Möglichkeit, kostenlos eine "Homepage", eine digitale Heimstatt, zu errichten. Berühmt war auch die kalifornische Netzcommunity "The Well", weil sie Netzaktivisten und Autoren eine virtuelle Gemeinschaft bot.

Über Nacht war alles weg

Was sich vielleicht in den letzten Jahren verstärkt hat, ist ein Gefühl der Heimatlosigkeit. Die frühen Webnutzer mussten mindestens einmal schon ihre Heimstatt aufgeben und sich an neuer Stelle ansiedeln. Nutzer von Geocities etwa können ihr digitales Heim nur noch unter archive.org besuchen – oder in dem Video des niederländischen Informationdesigners Richard Vijgen, der die verlorene Stadt in einem Ausstellungsprojekt namens "Deleted City" wiederbelebte. Dafür verwendete er die 650 Gigabyte Daten, die das Team des Internetarchivs vor der Schließung durch Yahoo im Jahr 2009 noch retten konnte. AOL stellte bereits 2008 seinen Dienst ein – über Nacht waren alle Seiten weg.

Was damals die Heimstätten betraf, betrifft heute virtuelle Identitäten: Als Google mit seinem neuen Dienst Google+ noch versuchte, seine Anti-Pseudonymitätspolitik durchzuziehen, verloren nicht wenige etablierte Netzakteure ihre Identität, weil diese nicht ihrem Realnamen entsprach. Weil Google-Manager Vic Gundotra auf dem Web 2.0-Summit vor wenigen Tagen für Google+ erklärte, dass die pseudonyme Nutzung nun doch erlaubt sei, wird es künftig keinen Friedhof "gelöschter Identitäten" geben müssen. Doch Facebook hält daran noch immer fest.

Anders als noch vor fünfzehn Jahren konzentrieren sich die Aktivitäten der Nutzer auf wenige zentrale Informationsknoten wie den Sozialen Netzwerken, den Suchmaschinen. Sie agieren in virtuellen Umgebungen von Unternehmen, um dort immer bequemer und schneller Informationen auszutauschen, obwohl dies nach wie vor auch über E-Mails oder Mailinglisten möglich wäre. Der neueste Trend besteht darin, in virtuellen Umgebungen Daten in Echtzeit auszutauschen: Mit Google Hangouts können Gruppen gemeinsam Videos ansehen, Teams können Desktops gemeinsam verwenden, über diverse Anwendungen können Aktivitäten gemeinsam gleichzeitig durchgeführt werden.

Die eigene Kontrolle bedeutet Freiheit

Eine virtuelle Heimstatt lässt sich auch anderswo wieder errichten, doch wie ist das mit einer Identität, die in einem sozialen Netzwerk über Jahre hinweg aufgebaut wurde? Deren Lebenslauf mit unzähligen Events, Bildern und Daten aller Art gepflegt wurde? Was geschieht, wenn ein Dienst wie Facebook eines Tages in ferner Zukunft beschließen wird, dass alle Daten über Nacht gelöscht werden, weil das Unternehmen pleite ist, oder weil viele Nutzer nicht mehr aktiv sind, weil inzwischen etwas anderes angesagt ist? Wenn ein Nutzer nicht mehr mit seiner Identität Informationen mit anderen austauschen kann?

Die deutlichste Veränderung in den letzten fünfzehn Netzjahren besteht wohl darin, dass die Identität und damit die Kommunikation des Einzelnen von den Unternehmensentscheidungen zunehmend abhängig werden. Das Internet war in seiner Frühzeit anarchischer, individualistischer und damit auch freiheitlicher. Vielleicht geht die Entwicklung auch wieder darin zurück. Projekte wie Diaspora und Social Swarm setzen auf verteilte soziale Netzwerke, die FreedomBox will sogar ein großes, vom Einzelnen betriebenes Internet ermöglichen. Denn letztlich ist Freiheit eine Frage, wie viel Kontrolle dem Einzelnen über seine Kommunikation bleibt.

Wie wichtig die Kommunikationsfreiheit den Internetnutzern tatsächlich ist, wird sich in einigen Jahren herausstellen: Dann werden wir entweder über eigene Netze miteinander kommunizieren – oder Identitätsfriedhöfe unterhalten.


Christiane Schulzki-Haddouti lebt und arbeitet als freie Journalistin in Bonn.