Die scheidende Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Christine Bergmann, dringt auf baldige Hilfen für Missbrauchsopfer und die zügige Umsetzung gesetzlicher Reformvorschläge. "Eigentlich geht es erst richtig los", sagte sie im Gespräch mit dem epd wenige Tage vor Ende ihrer Amtszeit am 31. Oktober. Das Thema Missbrauch dürfe nicht in Vergessenheit geraten.
Frau Bergmann, Sie beenden ihre Amtszeit als Beauftragte am 31. Oktober. Geht die Arbeit weiter?
Christine Bergmann: Ja. Es können alle Menschen weiterhin in der telefonischen Anlaufstelle anrufen. Mein Kernteam und die Fachkräfte an den Telefonen bleiben. Eine unabhängige Nachfolgestelle wird es ebenfalls geben. Über die Leitung dieser Stelle sollte möglichst bald auf ministerieller Ebene entschieden werden.
Was ändert sich?
Bergmann: Es kommen neue Aufgaben dazu. Diese Stelle wird eng mit der künftigen Clearingstelle zusammenarbeiten, die über die Hilfen für Betroffene entscheidet. Eine weitere wichtige Aufgabe ist zum Beispiel der Aufbau eines Hilfeportals im Internet.
Was darf nicht passieren?
Bergmann: Das Thema darf nicht in Vergessenheit geraten. Es ist erst der erste Schritt getan, und von Entwarnung sind wir noch weit entfernt. Die Empfehlungen, von denen der Runde Tisch und die Bundesregierung hoffentlich viele übernehmen werden, müssen in konkrete Schritte münden: Wir brauchen bessere Therapie- und Beratungsangebote, das Opferentschädigungsgesetz muss überarbeitet werden, es muss viel für die Prävention getan werden.
Werden Entschädigungen gezahlt?
Bergmann: Das ist Sache der Institutionen, in denen es zu Missbrauch gekommen ist. Dabei sollen aber Standards eingehalten werden. Meine Empfehlung ist, dass sich die Entschädigungen an der Höhe des damaligen Schmerzensgeldes orientieren sollen.
"Kein Thema der Vergangenheit"
Was muss auf jeden Fall umgesetzt werden?
Bergmann: Bei uns haben sich vorwiegend Menschen gemeldet, bei denen der Missbrauch sehr lange zurückliegt. Sie brauchen Hilfe. Sie leiden sehr unter den Folgen. Aber wir müssen auch auf die aktuellen Fälle schauen und in die Zukunft. Auch die systematische Aufarbeitung in den Institutionen bleibt ein wichtiges Thema.
Was bedeutet das im Einzelnen?
Bergmann: Wir brauchen Verbesserungen bei den Therapien. Es gibt zu lange Wartezeiten. Einige Behandlungsmethoden, die den Menschen helfen, sind nicht anerkannt oder werden nur stationär bezahlt. Damit wird sich der Runde Tisch beschäftigen müssen, aber auch das Bundesgesundheitsministerium ist hier gefragt. Es soll geprüft werden, inwieweit internationale Studien herangezogen werden können, damit die Zulassung für alternative Behandlungsverfahren wie Traumatherapien oder Kreativtherapien beschleunigt werden können.
Im Opferentschädigungsgesetz muss das Verfahren so verbessert werden, dass die Menschen schnell zu ihren Leistungen kommen. Große Lücken gibt es auch bei der Beratung. Wir haben zu wenige Anlaufstellen für Jungen und für Männer, die lange nach einem Missbrauch Hilfe suchen. Auch für Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen mit Behinderungen und in den ländlichen Gebieten gibt es zu wenig Angebote.
Und schließlich ist Missbrauch kein Thema der Vergangenheit. Deswegen muss es eine starke Sensibilität geben, in der Gesellschaft, aber ganz besonders in den Einrichtungen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Dort muss es Konzepte geben: Wo finde ich Hilfe? Wo ist die nächste Beratungsstelle? Wie muss ich mit dem Jugendamt zusammenarbeiten? Es geht nicht darum, immer gleich die Polizei einzuschalten.
Frau Bergmann, Sie haben sich von Beginn ihrer politischen Laufbahn an mit dem Themen Gewalt, sexuelle Übergriffe und dem Schutz der Schwächeren beschäftigt. Warum?
Bergmann: Bei mir war der Auslöser das Thema häusliche Gewalt. In der DDR gab es das angeblich nicht: In einer "heilen" sozialistischen Gesellschaft gab es keine prügelnden Ehemänner. Wegen dieser Ideologie gab es aber auch keine Hilfen. Dann haben wir im Osten Berlins 1990 das erste Frauenhaus aufgemacht, und es war über Nacht voll. Von da an bin ich an dem Thema drangeblieben. Ein Grund waren sicher auch die vielen Geschichten, die an mich herangetragen worden sind. Ich habe damals viel am Telefon gesessen. Das wirkt nach.
Botschaften an die Politik
Als Beauftragte haben sie über 2.000 Briefe von Missbrauchsopfern gelesen. Wie hat das auf Sie gewirkt?
Bergmann: Am Anfang bleibt einem fast die Luft weg. Ich war immer mit dem Thema vertraut, aber von diesen vielen schlimmen Einzelschicksalen zu hören, das war nicht leicht auszuhalten. Besonders berührt hat mich, wie früh das beginnt: schon im Kleinkindalter. Das war mir nicht bewusst, wie der Missbrauch die Kindheit durchzieht, häufig sogar durch mehrere Täter. Es schreiben mir 50-Jährige, 60-Jährige - und man merkt, wie tief die Wunden sind. Das steckt man nicht weg. Es geht schließlich um Kinder. Man sieht sie vor sich. In den Briefen kommen diese Kinder wieder zum Vorschein, die über so viele Jahre Schlimmes erdulden mussten.
Woran haben Sie sich festgehalten?
Bergmann: Ich habe ein gutes Team, wir haben uns viel untereinander ausgetauscht und beraten. Wir wollten, dass die Betroffenen uns mitteilen, was ihnen fehlt, welche Botschaften sie an die Politik haben. Ich musste nicht nur auf das Leid hören - ich konnte es ummünzen in Empfehlungen an die Politik. Das hat mir geholfen.
Sie hatten in besonderem Maß mit den Opfern des Missbrauchs in der katholischen Kirche zu tun. Was müssen die Kirchen leisten?
Bergmann: Von den Missbrauchsfällen in Institutionen betrafen zum Zeitpunkt des Abschlussberichts fast die Hälfte die katholische Kirche, für die Kirchen insgesamt waren es 60 Prozent. Von den Betroffenen weiß ich: Wer aus dem kirchlichen Umfeld kommt und gläubig ist, der möchte sich eigentlich nicht von seiner Kirche trennen. Betroffene erwarten aber eine Anerkennung der Schuld durch die Täter und durch die Institutionen, die die Täter geschützt haben. Wenn das nicht überzeugend geschieht, ist das furchtbar - eine erneute Enttäuschung und ein Verlust an Vertrauen, der die Menschen aus der Kirche heraustreiben kann, aus der sie eigentlich gar nicht gehen wollen, in der sie so aber auch nicht bleiben können.
Ich weiß nicht, ob sich die Verantwortlichen in den Kirchen immer darüber im Klaren waren, was das bedeutet. Auch darüber, dass Vergebung überhaupt erst möglich ist, wenn klar benannt ist, wer die Täter sind und wer die Opfer. Kinder sind nie Täter. Kinder sind immer Opfer.
Zur Person
Christine Bergmann wurde im März 2010 zur Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung berufen. Am 31. Oktober beendet Bergmann ihre Arbeit. Sie hat dem Runden Tisch, der von drei Bundesministerinnen geleitet wird, im Mai umfangreiche Empfehlungen vorgelegt.
Bergmann hat sich vom Beginn ihrer politischen Laufbahn an für die Opfer von Gewalt und sexuellen Übergriffen sowie für Kinderrechte eingesetzt. Sie gehörte nach dem Mauerfall zu den Mitinitiatorinnen des ersten Frauenhauses in Ost-Berlin. Als Berliner Arbeits- und Frauensenatorin richtete sie einen Runden Tisch ein gegen häusliche Gewalt und initiierte Programme für gewalttätige Männer. Als Bundesfamilienministerin erarbeitete Bergmann gemeinsam mit der damaligen Justizministerin Hertha Däubler-Gmelin (SPD) das Gewaltschutzgesetz, das geschlagenen Frauen mehr Rechte gibt.
Bergmann wurde 1939 in Dresden geboren. Sie studierte Pharmazie in Leipzig und arbeitete als Apothekerin in Berlin, bis sie 1977 Abteilungsleiterin für Arzneimittelinformation am Institut für Arzneimittelwesen der DDR wurde. Der SED trat sie nie bei. Direkt nach dem Mauerfall wurde Bergmann SPD-Mitglied und 1991 Berliner Arbeits- und Frauensenatorin. 1998 wurde sie Bundesfamilienministerin.
Bergmann ist seit ihrer Jugend in der evangelischen Kirche aktiv. Im Anschluss an ihre politische Karriere war sie von 2003 bis 2008 Mitglied der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz.