Theodor Wolff und die Sprache der Tatsachen

Theodor Wolff und die Sprache der Tatsachen
Die Aktualität des Namensgebers des renommiertesten deutschen Journalistenpreises reicht bis in unsere Gegenwart. In diesem Jahr feiert die Auszeichnung ihr 50. Jubiläum. Der Journalist, lautete das Credo Wolffs, habe die Situation zu erkennen und angemessen sachlich zu beschreiben. Der Historiker und Wolff-Biograph Bernd Sösemann sagt: "Wolff stand Zeit seines Lebens dafür, dass sich ein Journalist niemals mit den Herrschenden gemein machen darf."
05.09.2011
Von Ralf Siepmann

"Die Affäre dieses Schusters Wilhelm Voigt zerfällt in zwei verschiedenartige Teile: in eine Satire und in ein Drama, und beide Teile illustrieren die Zustände im Lande Preußen. Diese ... Affäre, die wie ein herrliches Spottgesicht die schwächliche Unterwürfigkeit und den Mangel an Bürgerstolz geißelt, zeigt mit geradezu tragischen Akzenten die zerstörenden Wirkungen einer oft noch barbarischen Justizgewalt."

So kommentierte Theodor Wolff im "Berliner Tageblatt" (B.T.) am 1. 12.1906 die Verurteilung des "Hauptmanns von Köpenick" zu vier Jahren Gefängnis. Voigt hatte als Hauptmann verkleidet mit einem Trupp von Soldaten das Rathaus von Köpenick überfallen, den Bürgermeister verhaftet und die Stadtkasse geraubt. Wolff kam der Prozess vor dem Berliner Landgericht gelegen, die Widersprüche und den Verfall der alten Wilhelminischen Ordnung exemplarisch aufzuzeigen und zu kritisieren. Sein Leitartikel ist ein großartiges Zeugnis seiner ureigenen Fähigkeit, sprachliche Prägnanz und stilistische Verständlichkeit zu verbinden.

Seine Leitartikel polarisierten

Einer der langjähriger engen Mitarbeiter Wolffs war Wolfgang Bretholz. In den 1960er Jahren sagte er über die Leitartikel des großen liberalen Publizisten des Kaiserreichs und der Weimarer Republik: "Sie wurden als die Stimme des demokratischen, freiheitlichen, europäisch gesinnten Deutschland überall zitiert; und sie erregten die Wut derer, die bei den Worten Freiheit und Demokratie zu den Revolvern griffen". Wolff (1868 – 1943), der als Korrespondent in Paris und ab 1906 als Chefredakteur die Zeitung des Verlegers Rudolf Mosse zur einflussreichen fortschrittlichen publizistischen Stimme in Deutschland profilierte, polarisierte wie kein zweiter in jener Zeit. Er war die respektierte Instanz einer neuen politischen Zukunft voller Hoffnungen, bis ihn die Nationalsozialisten 1933 aus dem Blatt und dann ins Exil trieben.

Bretholz und insbesondere Alfred Frankenfeld, Geschäftsführer der "Stiftung Die Welt", gehören zu den Wegbereitern des Theodor-Wolff-Preises, des wohl bedeutendsten Auszeichnung hierzulande für herausragende journalistische Leistungen. Er wurde 1961, also vor 50 Jahren erstmals öffentlich ausgeschrieben. In dieser Woche wird der Preis in den Kategorien "Kommentar/Glosse/Essay", "Allgemeines", "Lokales" und "Lebenswerk" erneut verliehen. 432 Einsendungen sichteten die Juroren 2011. In der Rückschau lesen sich die Namen der Ausgezeichneten wie das "Who is Who" der deutschen Presse.

Wolff forderte Unabhängigkeit

Die Frage nach der heutigen Aktualität Wolffs führt unmittelbar in die Gegenwart. Der Historiker und Wolff-Biograph Bernd Sösemann sagt: "Sein Kürzel T.W. stand für journalistische Qualität, geistige Unabhängigkeit und politische Seriosität." Es sind Grundpositionen eines Journalismus, um die heute nicht weniger engagiert gerungen wird. Wo verlaufen die Grenzen zwischen Politik und Medien, die gelegentlich gern als "vierte Macht im Staate" apostrophiert werden? Sösemann stellt fest: "Wolff stand Zeit seines Lebens dafür, dass sich ein Journalist niemals mit den Herrschenden gemein machen darf." Demnach würde Wolff heute die Kumpanei von Politik und Medien strikt ablehnen, wie sie für die "Mediendemokratie" unserer Tage charakteristisch geworden ist.

Dem unerbittlich an der Sache orientierten "T.W." jedenfalls hat sein beständiges Streben nach Unabhängigkeit und somit Glaubwürdigkeit gegenüber den Lesern sogar den Beifall derjenigen eingebracht, die seine Überzeugungen nicht respektierten. Im ersten Weltkrieg legte er sich selbst eine journalistische Auszeit auf. Motiv der einjährigen Schreibpause war seine Anti-Haltung gegenüber der Politik von Wilhelm II.. Manche seiner Widersacher, betont Sösemann, ließen damals wissen, ein Wolff, der schreibe, sei für Deutschland immer noch wichtiger als ein Wolff, der nicht schreibe.

Kein Platz für Wunschvorstellungen

Zu Wolffs Essentials eines politischen Journalismus im Zeichen von Qualität und Glaubwürdigkeit gehörten der adäquate Umgang mit den Fakten und einer Sprache jenseits von Eitelkeit und Selbstzweck. Der Journalist, lautete sein Credo, habe die Situation zu erkennen und angemessen sachlich zu beschreiben. Sein prüfender Blick habe sich auf die wesentlichen Faktoren und verantwortlichen Personen zu richten. Wolff stand für "ehrlich-schlichte Schmucklosigkeit" (Sösemann). Im politischen Journalismus gebe es für Wunschvorstellungen, für Träume, Visionen und Harmonisierungen keinen Platz.

Für diese Haltung hat sein Biograph den Begriff der "Sprache der Tatsachen" geprägt. Wolff, sagt Sösemann, habe sich stets dicht an den Fakten bewegt, sich um Wissen aus erster Hand bemüht, nicht mit dem Anschein begnügt. "Er ging so oft wie möglich in die Ministerien, ohne sich jedoch mit dem zu begnügen, was dort vorgetragen wurde."

Im Berlin der 1890er Jahre galt "T.W." als "Mosses junger Mann". Der Verleger baute auf den "Shooting Star" des Metiers, wie man heute sagen würde. Der wiederum schätzte Mosse und ganz besonders dessen Grundhaltung, ihm, Wolff, den (Frei-)Raum für die publizistische Weiterentwicklung von Tendenz und Qualität des "B.T." zu geben. Für den großen Leitartikler war allein die publizistische Verantwortung des Verlegers das Maß aller Dinge. In den Jahren ab 1920, als der Schwiegersohn Rudolf Mosses, der Verleger Hans Lachmann-Mosse, die Geschicke des "B.T." bestimmte, rieb sich Wolff regelmäßig an dessen eher kaufmännischer Mentalität. Wolffs Neigung, die Voraussetzungen für Qualität zuerst im eigenen Verlag einzufordern, passt unmittelbar in das Persönlichkeitsbild, das von ihm überliefert ist. An Aktualität dürfte sie nichts eingebüßt haben. "Verleger", resümiert Sösemann, "die rein kaufmännisch dachten, gehörten einfach nicht zu Wolffs Vorstellungswelt."


Ralf Siepmann arbeitet als Medienjournalist und Autor in Bonn.