Das Three Arches Hotel in Jerusalem. Touristen aus aller Welt unterhalten sich im Café angeregt darüber, was es nicht alles zu entdecken gibt in der Stadt, die drei Religionen als heilig ansehen. An einem der Tische sitzt auch Aaron Barnea, ein Israeli, 70 alt. Er ist extra aus Tel Aviv angereist – aber nicht, um irgendein Museum oder eine Ausgrabungsstätte zu besichtigen. Nein, er ist hier, weil die Trauer um den Tod seines Sohnes an ihm nagt und er mit palästinensischen und israelischen Angehörigen, die ebenfalls ein Familienmitglied verloren haben, heute einen Vortrag über Frieden und Versöhnung hören möchte.
"Wir waren eine ganz normale israelische Familie", erinnert sich Aaron Barnea. Als sein Sohn Noam 1999 im Libanon-Krieg starb, sei die Familienwelt allerdings "bis in ihre Fundamente" erschüttert worden. Der Schock des Vaters sitzt bis heute tief, er bebt innerlich. "Eine solche Erfahrung nimmt man mit in sein Grab", sagt er. Wie ist es möglich, den Tod des eigenen Sohnes zu verkraften? Immer wieder stellte sich Aaron Barnea diese Frage. Er hätte Rache üben oder Vergeltung fordern können. Doch das, sagt er leise, "hätte meinen Sohn nicht wieder lebendig gemacht." Aaron Barnea entschied sich dafür, dass er die Spirale der Gewalt durchbrechen und das Gespräch mit Palästinensern suchen wollte. Nur wie?
Schon vor dem Tod seines Sohnes hatte er einen Fernsehbericht über die israelisch-palästinensische Organisation "Parents Circle – Families Forum" (PCFF) gesehen. Ihr gehören Familien an, die durch Krieg und Terror nahe Verwandte verloren haben. Der israelische Präsident Ezer Weizman hatte Mitglieder des PCFF damals persönlich empfangen, wofür ihn politische Hardliner massiv kritisierten. "Ich habe dem Präsidenten einen Brief geschrieben und ihm meine Unterstützung ausgedrückt", erinnert sich Aaron Barnea. Er macht eine lange Pause – und fügt dann leise an. "In meinen schlimmsten Albträumen hätte ich mir nicht vorstellen können, dass ich drei Wochen später selbst Mitglied in diesem Forum werden würde."
"Sie starben vor meinen Augen"
Zwölf Jahre sind seitdem vergangen. Der 1995 gegründeten Organisation gehören mittlerweile 600 israelische und palästinensische Familien an. Mit regelmäßigen Begegnungen, Workshops und Diskussionen tragen sie zur Versöhnung im Nahost-Konflikt bei. Die Kreis der Unterstützer ist mittlerweile weit über die Landesgrenzen hinaus gewachsen: Angela Merkel zählt ebenso dazu wie Leonhard Cohen und Barack Obama, der die Versöhnungs- und Friedensarbeit des PCFF bei seiner letzten Nahost-Rede lobend hervorgehoben hat.
Zum heutigen Treffen in Jerusalem sind rund 50 Personen erschienen – auch Mohammed Abuayash ist unter ihnen, ein Palästinenser, der aus der Kleinstadt Beit Ummar im Westjordanland stammt. Sein Großvater wurde 1948 von israelischen Soldaten erschossen. Ende der Achtzigerjahre wurden zudem zwei seiner besten Freunde durch die Kugeln israelischer Scharfschützen getötet. "Sie starben vor meinen Augen", erinnert sich der 33-Jährige. "Wir waren damals erst elf Jahre alt." Er erzählt das sachlich, wie jemand, der extreme Gewalt lange schon mehr als Normalität erlebt hat.
Heute fragt sich Mohamed Abuayash: "Was haben uns 60 Jahre Krieg und Auseinandersetzung gebracht?" Nüchtern antwortet er: "Nichts". Beide Seiten hätten verloren, auch an Menschlichkeit. Mohammed Abuayash ist dem PCFF deswegen schon vor acht Jahren beigetreten und damit dem Beispiel seines Vaters gefolgt, der die Organisation auf palästinensischer Seite mit aufgebaut hat. Vater, Sohn und die ganze Familie haben sich für den Weg der Versöhnung entschieden. Dass dies auch 16 Jahre nach Gründung des PCFF keine leichte Aufgabe ist, diese Erfahrung macht Mohammed Abuayash bei den Treffen immer wieder "Ich erinnere mich an einen Mann, der zu einem Treffen kam und sagte: ‚Weißt du, ich hatte Angst, dich zu treffen. Deswegen habe ich Freunde mitgebracht." Es sei eine groteske Begegnung gewesen, über die der Palästinenser einen kurzen Moment lachen muss. Und dann wieder sehr ernst wirkt. "Begegnungen wie diese seien keine Ausnahme, überall herrschten Angst, Vorurteile und Entfremdung."
"Die Menschen haben aufgehört miteinander zu reden"
Mohammed Abuayash führt dies auf eine Politik der Abschottung und vor allem auf den Bau der Mauer zurück, die Palästinenser und Israelis seit 2003 trennt. Die Kleinstadt Beit Ummar, in der er wohnt, liegt in einer so genannten A-Zone im Westjordanland, die Israelis nicht betreten und viele Palästinenser nicht verlassen dürfen. Frieden sei da in weite Ferne gerückt. "In den letzten Jahren haben die Menschen aufgehört miteinander zu reden", sagt der Maschinenbau-Ingenieur. "Jede Seite bekommt nur noch das Negative der anderen mit und spricht einseitig entweder nur von Terroristen oder von Besatzern."
Diese Einschätzung teilt auch Aaron Barnea. "Obwohl wir oft nur einige Kilometer entfernt voneinander wohnen, wissen wir kaum noch etwas voneinander." Das Bild des Gegenübers sei geprägt von Stereotypen, wie sie in Medien verbreitet würden, ohne die Komplexität des Konflikts zu zeigen und den Blick auf den Einzelnen zu richten. "Unser größter Beitrag besteht darin, dass wir Israelis und Palästinenser in Kontakt miteinander bringen. Wir humanisieren die andere Seite, bringen ihre Menschlichkeit in unser Bewusstsein."
Mohammed Abuayash sieht das ähnlich. "Unsere Mission ist es, den Blick gegenüber der anderen Seite zu öffnen, das Humane zu entdecken und Menschen die Möglichkeit zu geben, sich zu treffen, sich kennen zu lernen." Nur auf diesem Wege sei nach dem Kampf der vergangenen Jahrzehnte Versöhnung möglich, fügt Aaron Barnea hinzu. Diesem Weg zu folgen sei absolut notwendig, denn: "Ohne Versöhnung wird es keinen Frieden geben."
Literatur zum Thema: Alexandra Senfft: Fremder Feind, so nah. Begegnungen mit Palästinensern und Israelis. Edition Verlag Körber-Stiftung. 366 Seiten. 20,00 Euro.
Thomas Becker ist freier Journalist und lebt in Düsseldorf und war im Sommer in Israel und im Westjordanland unterwegs.