Jugendpsychiaterin: Gewalt ist Ausdruck einer Überforderung

Jugendpsychiaterin: Gewalt ist Ausdruck einer Überforderung
Wenn Jugendliche scheinbar grundlos zuschlagen, ist oft Überforderung ein Grund. Die Expertin für Jugendpsychiatrie, Prof. Annette Streeck-Fischer beschreibt im Interview typische Mechanismen.
19.08.2011
Die Fragen stellte Andrea Barthélémy

Sind Jugendliche heute gewalttätiger als noch vor Jahrzehnten oder ist die Gesellschaft stärker sensibilisiert?

Streeck-Fischer: Jugendliche insgesamt sind nicht gewalttätiger geworden, es ist sogar ein Rückgang feststellbar, wie die Shellstudie etwa belegt. Danach sind es relativ wenige, die damit auffallen. Diese Jugendlichen sind auch nicht auf eine bestimmte Schicht beschränkt. Was aber neu und auffallend ist - anders als in früheren Zeit, wo für die Gewaltattacken Gründe gefunden wurden - dass es heute scheinbar unmotivierte Gewalttaten sind, die plötzlich wie aus dem Nichts auftreten. Bedeutsam ist dabei, dass Alkohol eine Rolle spielt, der ja eine enthemmende Wirkung hat. Bedeutsam ist sicher auch, dass es gerade bei Jugendlichen Nachahmungstäter gibt. Es hat in gewissen Peergroups eine Art Prestigecharakter. In der Regel liegen jedoch Kränkungen, Enttäuschungen, Belastungen, Frustmomente vor, die einen auslösenden Charakter haben.

Inwieweit spielen Bildung, Erziehung und familiärer Hintergrund eine Rolle?

Streeck-Fischer: Den Jugendlichen, unabhängig von ihrem Hintergrund, wird vermittelt: Du bist verantwortlich für das, was du erreichst, schaffst, hinkriegst - in einer Gesellschaft, in der es Grenzen durch Schichtabhängigkeit nicht mehr gibt. Diese Erwartungen gehen nicht selten mit einer gewissen Vernachlässigung einher. Der Jugendliche mit seinen Nöten wird aus dem Auge verloren - er macht es den Eltern sicher auch nicht leicht, ihn zu erreichen. Wenn dann Schul- oder Ausbildungsfrust dazu kommt und der von der Familie erwartete Leistungsanspruch nicht erfüllt wird, dann wird das nicht in der Familie ausgetragen, sondern woanders - beim nächsten, vielleicht schwächeren, der provoziert oder an das eigene Versagen erinnert.

Was kennzeichnet heute die Adoleszenz?

Streeck-Fischer: Die Jugendphase ist eine Zeit, in der das Selbstbewusstsein durch all die Veränderungen, mit denen der Jugendliche konfrontiert wird, labilisiert wird. Es ist eine besonders störanfällige Zeit. Dies wird nicht immer so gesehen. Jugendliche testen Grenzen aus. Wenn die Grenzen nicht mehr in der Auseinandersetzung mit vertrauten Personen erfahren werden - durch Regeln, Gebote oder auch Verbote, dann werden diese Konflikte in den öffentlichen Raum getragen.

Wie kann Prävention aussehen?

Streeck-Fischer: Jugendliche brauchen Aufmerksamkeit. Die Jugendphase ist nicht so gefahrlos, wie das immer dargestellt wird - zumindest für einige Jugendliche. Es besteht ein erhöhtes Risiko für Selbstmord, für Drogen- und Suchtprobleme, für Infektionen wie HIV oder eine frühe Schwangerschaft. Auch die Hälfte der psychiatrischen Erkrankungen von Erwachsenen beginnt in dieser Zeit. Lehrer, aber auch Eltern, sollten hier bereit stehen, und zwar mehr, als viele denken. Vor allem dürfen sie die Barriere, die Jugendliche um sich herum gerne aufbauen, nicht einfach so akzeptieren und sich gleichfalls zurückziehen. Was sind in dieser Phase gute Eltern? Bestimmt nicht die, die keine Grenzen setzen.


Prof. Annette Streeck-Fischer arbeitet an der International Psychoanalytic University in Berlin.

dpa