"Wir werden uns an die Rosen erinnern und nicht an das Blut"

"Wir werden uns an die Rosen erinnern und nicht an das Blut"
Wie lässt sich die Tragödie von Oslo und Utøya verarbeiten? Wie gehen die Norweger mit den Anschlägen vom 22. Juli um? Der norwegische Journalist Pål Stokka beschreibt für evangelisch.de, wie er die Tage nach dem Anschlag erlebte und was er sich für die Zukunft Norwegens erhofft.
05.08.2011
Von Pål Stokka

"Wir sind so wenige in diesem Lande, daher ist jeder Gefallene entweder ein Bruder oder ein Freund." - Nordahl Grieg

Am 22. Juli hatte ich mir freigenommen, um einen guten Freund zu besuchen. Ich war eingeladen, seine kürzlich geborene Tochter kennenzulernen und gemeinsam die Tour de France anzusehen. Es sollte ein ganz normaler Tag werden. So war es auch, bis wir die Explosion hörten. Wir sahen die Nachrichten im Fernsehen, während sein Baby im Kinderwagen neben der Couch weiter schlief. Wir dachten, gestern wäre der letzte Tag in dem Norwegen gewesen, das wir bisher kannten. Wie könnte es jemals so sein wie früher?

Heute sind die Fenster meines Büros mit Rollladen verriegelt. Ich kann mich glücklich schätzen, dass ich überhaupt noch ein Fenster habe. Wenn ich aus dem Fenster blicke, sehe ich zerbrochenes Glas und mit Pappe notdürftig geflickte Fenster. In der Straßenzeile gegenüber kann ich das Gebäude sehen, das einmal das Amtsgebäude des Premierministers Jens Stoltenberg war.

Hoffnung, auf seltsame Weise mit Trauer verbunden

Es gab eine Bombe, wisst ihr? Und ein Mann mit einer Mission, den niemand verstehen kann und will. Ein Mann, der unsere Zukunft auslöschen und uns der Hoffnung berauben wollte.

Wenn ich aus dem Fenster blicke, sehe ich nun keine Scherben oder zerbrochene Hoffnung, sondern Rosen. An jeder Ecke liegt eine Rose. Sogar die Zäune, die die zerstörten Regierungsgebäude abschotten, sind mit Rosen bedeckt.

Acht Menschen haben ihr Leben nur 200 Meter entfernt von dort, wo ich sitze, verloren. 69 Menschen starben auf einer idyllischen Insel, nur 40 Autominuten entfernt von hier, aber alles was ich fühle, ist Hoffnung, auf seltsame Weise mit der Trauer verbunden ist.

An jenem Tag – es scheint, er läge schon Jahre zurück - riefen wir unsere Freunde und Verwandten an, sahen die Nachrichten, weinten zusammen. Würden wir im Rückblick sagen, dies war der Tag, an dem Norwegen seine Unschuld verlor? Würden wir unsere Lebensart ändern? Könnten wir dies - in einem Land, in dem der Premierminister ohne Personenschutz Fahrrad fährt? Ein überall bekanntes Bild zeigt, wie unser früherer König Olav mit Skiern in öffentlichen Verkehrsmitteln zum Holmenkollen fährt.

"Wir müssen mehr Respekt lehren"

Wir sind ein ruhiges Volk. Wir werden nicht schnell laut. Wenn wir auf Unbekanntes treffen, weichen wir ihm eher aus als dass wir uns darauf einlassen. Aber an diesem Tage schrien wir gemeinsam. Zuerst gegen die Grausamkeiten, die ein Mann begangen hatte. Aber der Aufschrei, der dann folgte, war noch größer. Wir werden uns nicht ändern.

Unsere Politiker drückten es gewandter aus: "Unsere Antwort ist mehr Demokratie, größere Offenheit und mehr Menschlichkeit," sagte Premierminister Stoltenberg. "Ich glaube nicht, dass mehr Sicherheit Probleme lösen kann. Wir müssen mehr Respekt lehren", erklärte Oslos Bürgermeister Fabian Stang.

Und unsere Zukunft? Die Jugendlichen, die in dem idyllischen Sommercamp der Arbeiterjugend so brutal niedergemetzelt wurden? "Wenn ein einzelner Mensch so viel Hass erschaffen kann, kann man sich kaum vorstellen, wie viel Liebe wir zusammen erschaffen können, wenn wir zusammenhalten."

An die Rosen erinnern statt an die Scherben

Wir sind ein Land, dessen Wunden heilen statt ewig zu schmerzen, und wir wollen unsere Kinder zu Toleranz erziehen. Ein jugendlicher Überlebender aus Utoya sagte in den Nachrichten: "Dieser Mann hat über meine Zukunft entschieden. Nun muss ich weitermachen. Ich muss das fortsetzen."

Bald wird das Fensterglas in meinem Büro ausgetauscht und ich muss die Fenster nicht mehr verriegeln. Wir wissen noch nicht, wie der 22. Juli unser Leben verändern wird, aber wir werden versuchen, uns an die Rosen zu erinnern statt an das Blut und die Glasscherben auf der Straße.


Pål Stokka lebt und arbeitet in Oslo. Der Norweger ist Journalist und arbeitet beim Vendetta-Verlag.