Dem Ideensalat des Attentäters nicht das Feld überlassen

Dem Ideensalat des Attentäters nicht das Feld überlassen
Nach dem Attentat von Norwegen suchen viele Menschen nach Deutungen, nach Erklärungen. Aber die einzelne Tat lässt sich nicht erklären. Der Kontext von Ideen, aus dem die Tat entstand, allerdings schon. Diesen Ideen dürfen wir das Feld nicht überlassen.
27.07.2011
Von Hanno Terbuyken

Wir Menschen suchen nach Deutungen. Etwas unerklärt stehen zu lassen, fällt uns gemeinhin schwer. Das Massaker von Utøya ist genau so ein Ereignis, bei dem alle – Journalisten, Politiker, Leser, Betroffene – nach einer Deutung suchen. Der Attentäter machte es uns leicht: Das 1.500-Seiten-Manifest, das er hinterließ, bietet eine Vielzahl von Ansatzpunkten für die Interpretation seiner Tat und seiner Motive. Anti-islamischer Hobbybauer (irgendwie musste er ja an den Dünger für die Bombe kommen), kreuzzugsbegeisterter Freimaurer, durchgeknallter Irrer – die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen.

Der norwegische Geheimdienst ist vorerst zu dem Schluss gekommen, dass Anders B. ein Einzeltäter war, ein "lone wolf", ein klassischer hausgemachter Terrorist. Sicherheitsbehörden fürchten solche Täter wie der Teufel das Weihwasser. Denn diese einheimischen Terroristen sind kaum zu finden. Sie müssen nicht auf dem Weg ins Terrorcamp ausreisen und dann aus einem Schurkenstaat wieder einreisen. Sie haben keine Organisation und keine Komplizen, keine Kommunikation, die man überwachen könnte. Sie fallen durch jede Rasterfahndung, weil das Raster nicht auf sie passt.

Das macht die Deutung der Tat noch viel schwerer, eben weil es kein fertiges Muster gibt. Fakt ist, dass der Attentäter zu Bombe und Waffe gegriffen und über 70 Menschen umgebracht hat. Es gibt kein einfaches Erklärungsmuster, das herangezogen werden kann, um das "Warum" zu erklären. Es ist passiert, und das ist zuallererst eine Tragödie, die zutiefst traurig macht. Nicht nur die Menschen in Oslo, sondern auch uns hier in Deutschland.

Den Einzeltäter kann man nicht stoppen, aber seine Ideen

Während in Norwegen allerdings getrauert wird, beginnt in Deutschland eine politische Debatte über die Folgen des Anschlages. Rechtsextreme besser überwachen, am besten das ganze Internet, Vorratsdatenspeicherung, die üblichen Reflexe. Die einen sagen "Sicherheit", die anderen sagen "Freiheit". Ich sage "Freiheit": Denn wollte man Anschläge wie den in Norwegen mit den Mitteln der Staatsmacht wirklich verhindern, müsste man einen Überwachungs- und Denunzianten-Staat aufbauen, der mit einer Demokratie, die von Meinungsfreiheit lebt, nicht mehr viel zu tun hätte.

Das ist das Problem mit "hausgemachten Terroristen". Jeder einzelne von uns wird nicht anders können, als zu akzeptieren, dass durchgeknallte Einzeltäter immer schwer zu stoppen sind. Da lässt sich nicht viel dran deuten außer zu hoffen, dass diese Leute durch ihre Umgebung – Freunde, Bekannte – gestoppt werden.

Wir können aber versuchen, zu verstehen, wo Menschen wie Anders B. ihre Ideen hernehmen, und dafür ist sein Manifest dann doch hilfreich. Im Kern geht es um eine Ausgrenzung von Andersdenkenden, um die Ablehnung dessen, was sie "Multikulti" nennen, gegen die angebliche Islamisierung Europas und gegen den "politisch korrekten Mainstream", der das alles zulasse.

Eine Alternative zu Abgrenzung und Ablehnung zeigen

Diese Bewegung müssen wir ernst nehmen, denn sie ist ziemlich meinungsstark, möglicherweise sogar mehrheitsfähig (man schaue sich nur mal Geert Wilders in den Niederlanden an). Auf der Suche nach dem Manifest des Attentäters findet man zahlreiche Webseiten und Blogs im Netz, die sich dieser Ideologie angeschlossen haben. Es wäre falsch, vor dieser Ideologie die Augen zu verschließen und ihre Fragen tatsächlich mit dem Argument der "political correctness" einfach als abwegig zu betrachten.

Es wäre aber ebenso falsch, sich ihren Urteilen einfach anzuschließen. Berechtigte Kritik muss man von irrationaler Angst unterscheiden. Dieser Arbeit müssen wir uns stellen – damit die Menschen sehen, dass es eine Alternative zu Ablehnung und Abgrenzung gibt, gerade in der Tradition des Christentums, auf die sie sich so gern berufen. "Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus", schrieb Paulus im Brief an die Galater (3,28). Daran können wir uns halten.

Dem Ideensalat, aus dem der Attentäter von Norwegen eine Berechtigung zu tödlicher Gewalt ableitete, darf man jedenfalls nicht das Feld überlassen.


 

Hanno Terbuyken ist Redakteur bei evangelisch.de und schreibt das Blog "Angezockt".