Sie haben neulich gesagt, es sei Ihr bislang hellstes Buch. Wie meinen Sie das?
Walser: Percy ist sicher der hellste Charakter, die hellste Figur, die bisher leichteste Figur. "Ich baue Leichtigkeit an wie andere Mais und dünge sie mit Himmelslicht". Eine Figur, die so spricht, hatte ich bisher nicht.
Wie kam es dazu?
Walser: Ich wollte das nicht, ich habe das nicht geplant. Nachträglich kann ich das aber begründen: Das Wichtigste ist wohl, dass das Gesellschaftliche fehlt, das sonst immer so wichtig war. Alles Gesellschaftliche findet nicht mehr statt - und das ermöglicht eine große Leichtigkeit. Es geht um die wesentlichen Themen, die Themen der Existenz. Das liegt an diesem Percy. Weil der so ist, bin ich natürlich auch so. Ich bin durch ihn auch heller und leichter geworden. Ich muss mich nicht mehr damit plagen, wie der in seinem Betrieb ankommt oder wie die Nachbarin über ihn denkt. Percy hat eine alle überstrahlende Helligkeit.
"Alle diese Figuren sind Verlassene
und müssen damit fertigwerden."
Was auffällt: Ihre Hauptfiguren sind vor allem einsam.
Walser: Das wichtigste Motiv, ist das Motiv der Verlassenheit. Alle diese Figuren sind Verlassene und müssen damit fertig werden. Exemplarisch ist dafür dieser Professor Feinlein im dritten Teil, der in seiner Verlassenheit eine Glaubensstärke entwickelt. Er wird im Buch zum Spezialisten für das Glaubenkönnen. Seine Erfahrung ist: "Wir glauben mehr als wir wissen." Und: "Glauben macht die Welt schöner, als sie ist."
Wie wäre die Welt, wenn wir nichts glauben würden?
Walser: Die Genesis ist einfach schöner als der Urknall. Das muss man zugeben. Da muss man auch sagen: Die, die an den Urknall glauben, die glauben ja auch nur etwas. Die können das ja auch nicht selber errechnen. Die glauben das nur. Und Percy glaubt immer an das Schönere. Je schöner etwas ist, desto mehr Macht hat es über ihn.
Waren Sie ein Muttersohn, gar ein Muttersöhnchen?
Walser: Sehen Sie: Das Wort existiert in unsere Sprache nur in dieser elenden Form "Muttersöhnchen". Daraus entnehme ich, dass die Menschen jedes Mal, wenn ein Sohn zu seiner Mutter ein besonderes Verhältnis hat, diesen als Muttersöhnchen bezeichnen. Und das Wort Muttersohn gibt es gar nicht. Ich kann nur hoffen, dass ich es sozusagen gerettet habe für den Gebrauch. Da ich meinen Vater verloren habe, als ich zehn war, und meine Mutter unsere Familien ununterbrochen gerettet hat - vor dem Konkurs, vor den Bankrott - ist klar: Ich bin ein Muttersohn - ganz und gar.
Welches Verhältnis haben Sie zu ihren Töchtern?
Walser: Unsere Kinder sind weniger bedroht vom Ruin aufgewachsen als ich. Es ist doch so: Je bedrohlicher die Situation für eine Familie ist, desto mehr wird innerhalb einer Familie eine Gemeinsamkeit entwickelt. Unsere Töchter haben ganz sicher zu ihrer Mutter ein innigeres, näheres, unmittelbareres Verhältnis als zu mir.
Würden sie das Buch auch als Glaubensroman bezeichnen?
Walser: Wenn man damit nicht eine falsche Positivität verbindet. Glauben ist nicht eine Tag und Nacht verfügbare Sicherheit. Glauben kann man nicht einschalten wie das Licht. Glauben ist ein andauernder Prozess - weil andauernd bedroht vom Nicht-Glaubenkönnen. Nicht glauben können und doch glauben wollen. Das ist nicht ein Besitz, den man hat.
Und was glauben Sie?
Walser: Das ist nicht abfragbar. Das ist ein Tag-und-Nacht-Vorgang. Nehmen wir mal das Wichtigste: die Liebe. Ob mich jemand liebt, das kann ich nicht ausrechnen. Wenn der mir das sagt, muss ich es ihm glauben. Liebe ist vollkommen ein Glaubensverhältnis und nicht ein Wissensverhältnis. Daran wird es deutlich, wie wichtig Glauben in unserem ganzen Leben ist.
"Die meisten Leute glauben, sie seien vom
Wissen abhängig, aber in Wirklichkeit
sind sie vom Glauben abhängig."
Ist das die Botschaft des Romans?
Walser: Es ist ein Anliegen dieses Buches geworden, das es das Glaubenkönnen in der Wichtigkeit erzählt, die in der Wirklichkeit vorhanden ist. Die meisten Leuten glauben, sie seien vom Wissen abhängig, aber in Wirklichkeit sind sie vom Glauben abhängig.
Ist Ihnen das Glauben wichtiger geworden?
Walser: Ich bin durch dieses Buch da hineingekommen. Wenn Sie so eine Figur wie Percy haben und diesen Professor Feinlein, dann erfahren Sie unwillkürlich, wie wichtig Ihnen Glaubenszustände sind. Dann merken Sie, dass alles, was Sie wissen, weniger Einfluss hat auf Sie als das, was Sie glauben. Percy sagt: "Glauben ist die Handschrift der Seele." Das Wissen hat man immer von einem anderen, aber das Glauben hat man selber. Der Professor sagt: "Ich glaube, also bin ich." Ich habe durch das Buch erlebt, dass es für mich auch stimmt.
Wie viel Walser steckt in den Figuren?
Walser: Ich fühle mich ganz und gar im Percy - aber ich fühle mich genauso im Feinlein. Professor Feinlein liefert dem Percy-Roman den denkerischen - fast theoretischen - Hintergrund. Da wird das Glauben können intellektuell und historisch reflektiert. Percy kann nicht theoretisieren. Er kann nur sagen, was er ist. "Ich kann nicht sagen, was ich weiß. Ich kann nur sagen, was ich bin", sagt Percy. Er kommt dafür nicht infrage. Percy praktiziert das, was Feinlein auch denken kann. Insofern ist mir der Feinlein genauso wichtig wie der Percy. Ohne den Feinlein würde dem Percy der historische Hallraum fehlen.
Ihr Percy wird gerne mal als «Jesus-Figur unserer Zeit» bezeichnet. Ist Ihnen das recht?
Walser: Ich selbst dürfte und könnte das nie sagen. Percy wird in einer Talkshow gefragt, ob er mit Jesus von Nazareth konkurriere und dann sagt er: "Ich weiß nicht, was das ist: konkurrieren." So was kann aber ganz sicher kein Motiv sein. Die Figur kann so wirken. Bitteschön. Das kann ich nicht verhindern.
"Literatur hat heute mit Religion nichts
mehr zu tun. Aber die inneren Zustände,
die wir religiös nennen, die gibt es ja noch."
Wo ordnen Sie Ihren Roman ein?
Walser: Es hat mal eine Zeit gegeben, da waren Religion und Literatur eins. Die Psalmen, das Neue Testament - das war genauso Literatur wie Religion. Und die sind heute weit auseinandergekommen. Literatur hat heute mit Religion nichts mehr zu tun. Aber die inneren Zustände, die wir in uns religiös nennen, ohne dass wir sie kirchlich nennen, die gibt es ja noch. Insofern hat das Buch ein bisschen den Ehrgeiz, Religiöses und Literarisches wieder als eine Fähigkeit und Ausdrucksart des Menschen zu zeigen.
Sie haben den dritten Teil mit dem Titel "Mein Jenseits" bereits vorab als Novelle veröffentlicht. Warum dieser ungewöhnliche Weg?
Walser: Als ich den dritten Teil vom "Muttersohn" geschrieben hatte, habe ich gemerkt, dass er dem Roman einen Ideenhimmel zur Verfügung stellen kann. Ich habe mich aber gefragt: Mein Gott, was werden meine Leser sagen, wenn ich mit einem Glaubensbuch daherkomme? Man bring mich ja mit ganz anderen Themen zusammen. Dann habe ich eine Probe gemacht und "Mein Jenseits" geliefert. Und es ging sehr gut. Es hat mich sehr gefreut, dass man mir sowas gestattet. Das hat dann mein Schreiben beflügelt.
Es geht auch viel um Sehnsüchte. Was sind Ihre Sehnsüchte?
Walser: Die werde ich niemals außerhalb eines Manuskriptes bekennen. Die gibt es für mich nur als Brennstoff der Seele fürs Schreiben.
Was haben Sie eigentlich gegen An- und Abführungszeichen für die wörtliche Rede, auf die Sie konsequent verzichten?
Walser: Ich habe eine Aversion gegen diese kleinen Strichlein. Das sind schon sehr viele. Und sie sehen nicht so schön aus wie die Buchstaben. Deshalb versuche ich, sie zu entbehren.
Martin Walser wurde am 24. März 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren. 1951 wurde er mit einer Arbeit über Franz Kafka promoviert. Für seinen Romanerstling "Ehen in Philippsburg" erhielt Walser 1957 den Hermann-Hesse-Preis. Einst DKP-Sympathisant erregte der Autor 1988 Aufsehen mit dem Bekenntnis, er könne sich nicht mit der deutschen Teilung abfinden. 1998 bekam er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und löste eine Kontroverse mit seiner Kritik an einer "Moralkeule Auschwitz" aus. Zu Walsers bekanntesten Büchern zählen die Novelle "Ein fliehendes Pferd" (1978) sowie die Romane "Seelenarbeit" (1979), "Die Verteidigung der Kindheit" (1981) und "Angstblüte" (2006). Walser ist seit 1950 verheiratet, das Ehepaar hat vier Töchter.