Nach Ansicht von Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtverbandes, darf von einer steigenden Empfängerzahl aber nicht auf einen Missbrauch des Sozialstaates geschlossen werden. "Für eine derartige These gibt es keinerlei empirische Anhaltspunkte", sagte Schneider am Dienstag dem epd.
Im Februar 2011 wurden laut Bundesagentur knapp 118.000 Hartz-IV-Aufstocker unter den Selbstständigen gezählt. Davon verfügten etwa 85.000 Hartz-IV-Aufstocker über ein Einkommen von weniger als 400 Euro. 25.000 verdienten bis zu 800 Euro, der Rest etwas mehr.
Schwarze Zahlen schreiben oder aufgeben
Arbeitsvermittler in den Jobcentern beobachten dem Zeitungsbericht zufolge die Entwicklung mit Sorge, weil Selbstständige ihr Einkommen so herunterrechnen könnten, dass sie auf dem Papier Anspruch auf die Hilfe zum Lebensunterhalt haben, obwohl sie auf das Geld gar nicht angewiesen sind. Heinrich Alt, Vorstandsmitglied der Bundesagentur, sagte der Zeitung: "Natürlich können Selbstständige theoretisch ihr Einkommen so gestalten, dass sie in der Hilfebedürftigkeit verbleiben." Die Bundesagentur habe aber keine Erhebungen dazu, ob und wie oft das vorkommt.
Alt regte an, darüber nachzudenken, ob sich die Bezugsdauer von staatlichen Grundsicherungsleistungen für Selbstständige zeitlich begrenzen lässt. "Irgendwann muss man schwarze Zahlen schreiben oder - so weh es tut - die Selbstständigkeit aufgeben. Der Steuerzahler kann nicht auf Dauer eine nicht tragfähige Geschäftsidee mit finanzieren", sagte er der Zeitung.
"Die Beurteilung darüber, ob ein Selbstständiger tatsächlich hilfebedürftig ist, obwohl er zum Beispiel Angestellte hat, ob seine Betriebsausgaben vermeidbar oder angemessen sind oder das Kassenbuch stimmt, ist eher etwas für steuerfachliche Feinschmecker als für Sachbearbeiter im Jobcenter", sagte Alt weiter.
"Das macht niemand aus Spaß oder Kalkül"
Ulrich Schneider hält die Diskussion um die Rechtschaffenheit selbstständiger Hartz-IV-Empfänger hingegen für "falschen Alarm". "Von den etwa 1,2 Million Aufstockern unter den Hartz-IV-Empfängern ist gerade mal jeder zehnte selbstständig", sagte Schneider. Zudem werde übersehen, dass bei einem Antrag auf Hartz IV nicht nur das Einkommen einer Person, sondern das gesamte Vermögen überprüft werde. "Bevor jemand Hartz IV beantragen kann, muss er quasi um sein gesamtes Vermögen gekommen sein", sagte Schneider. "Das macht niemand aus Spaß oder Kalkül."
Gerd Bosbach, Statistikprofessor an der Fachhochschule Koblenz, sagte dem epd, dass es zu der Frage, weshalb immer mehr Selbstständige zu Hartz-IV-Empfängern würden, kaum Kenntnisse gäbe und jedwede Aussage letztlich auf Mutmaßungen beruhe. Den Vorschlag von Alt, die Bezugsdauer von Grundsicherungsleistungen für Selbstständige zeitlich zu begrenzen, hält Bosbach für "unsozial und eine Unverschämtheit". Bosbach fügte hinzu: "Selbst wenn ein Teil der selbstständigen Hartz-IV-Empfänger lügt und das Einkommen herunterrechnet: Von was sollen dann die anderen leben?"