Schon zwei Stunden vor Beginn der Veranstaltung warten Menschen vor der Eisentür der JVA. Es ist Donnerstagmittag, es ist warm, sie stehen in der Sonne. Statt des üblichen Anruf-Linien-Taxis fährt heute ein großer Gelenkbus zur Haltestelle "JVA" - und leider muss er viele Fahrgäste direkt wieder mit zurück nehmen. Maximal 50 dürfen hinein ins Gefängnis. Vor allem die Jugendlichen machen traurige Gesichter, sie hätten gern gewusst, wie das Leben da drinnen ist. Immerhin: Die Organisatoren in der JVA sind flexibel, nun dürfen doch fast 60 Gäste hinein.
Foto links: Vergitterte Fenster, von den Gefangenen individuell mit Vorhängen ausgestattet (Anika Kempf/evangelisch.de)
Erst müssen die Besucher ihre Rucksäcke einschließen. Dann ihre Personalausweise abgeben. Anschließend werden alle mit einem Metalldetektor überprüft, und dann geht es los: Die Besucher werden zwischen Gefängnismauern und an Gitterfenstern entlang geführt, Gefangene schauen heraus, schauen neugierig, manche sagen schüchtern "Hallo". Es ist still, bedrückend. Die Kunsttherapeutin Antje Grüner begrüßt die Gäste auf einer Wiese. Sie ist nervös, ihre Anweisungen etwas unzusammenhängend. Man könne jetzt auf der Wiese Platz nehmen, sagt sie mit Blick zu einer grauen Mauer.
Theaterstück erzählt von "Hans im Pech"
Die Theatergruppe und die Ausdruckstanz-Gruppe der JVA haben Stücke eingeübt für diesen besonderen Tag und führen sie ganz ohne Requisite auf. Ihre Bühne ist das Gras vor der grauen Mauer. Das erste Stück trägt den Arbeitstitel "Hans im Pech", es erzählt von Ablehnung, Behördenterror, von Trennung und Verlust des Sorgerechts, von emotionalen Verletzungen durch alte Freunde. Es sind ihre Geschichten. Es geht um ihre Sehnsucht nach Zuneigung, nach Kontakt, nach gelingendem Leben in Freiheit. Am Schluss geht jeder "Hans im Pech" direkt auf einen Kirchentagsbesucher zu und sagt einen Satz wie: "Ich freue mich, neue Leute zu sehen." Das geht einigen Gästen sehr nahe.
Dann kommt die Gruppe "Ausdruckstanz", sie besteht nur aus Frauen, schätzungsweise um die 30 Jahre alt. Sie tanzen ihre Geschichten mal still, mal mit Musik, lassen sich nicht beirren von Rufen aus den vergitterten Zellen: "Auszieh'n, auszieh'n!" oder "Mach die Scheiße aus". Sie tanzen weiter, rennen gegen die graue Mauer, schreien. Warum nur, fragen sich die Kirchentagsbesucher, sind diese jungen Frauen im Gefängnis? Man wird es nicht erfahren, auch später bei den Gesprächen nicht. Zwer erfährt man viel über ihr Leben, aber die Frage nach der Straftat wäre zu indiskret. Das Symbol der Tänzerinnen ist eine Zwiebel: Innen saftig, außen trocken. Innen viel Gefühl, außen mehrere Schutzschalen. Nichts soll nach außen dringen, das macht nur noch verletzlicher.
Einsamkeit und Sehnsucht hinter Gittern
Foto links: Chorsängerinnen - darunter auch Gefangene der JVA Dresden (Anika Kempf/evangelisch.de)
Im Gottesdienst gehen Gefängnisseelsorgerin Antje Siebert und ihre Kollegin Erika Müller weiter auf das Zwiebel-Symbol ein: Einsamkeit, sich abkapseln, Emotionsentzug - das sind die Probleme der Gefangenen. Sehnsucht nach Zuwendung und Nähe. Die Besucher verstehen, versuchen, sich das Leben hinter Gittern vorzustellen - mit all den Verletzungen, all dem Scheitern, das diese Menschen mit sich herumtragen.
Doch dann spricht Erika Müller über einen grünen Trieb aus dem Innern der Zwiebel: Er symbolisiert Sehnsucht und Hoffnung. Sehnsucht nach einem gelingenden Leben draußen, Hoffnung auf ein Wiedersehen mit vertrauten Menschen, Vorfreude auf den Tag der Entlassung. Diese Vorfreude hatten sie gemeinsam getanzt als Schluss-Szene, mit Jubelschreien. So viel Gefühl - und trotzdem ist die Atmosphäre etwas angespannt im Mehrzweckraum der JVA. Die Besucher sind noch scheu. Wie sollen sie mit den Gefangenen reden? Was darf man fragen?
Ein Witz löst die Unsicherheit auf: Als deutlich wird, dass es zu wenige Stühle gibt, wollen Gäste für Gefangene aufstehen und ihnen ihre Stühle anbieten. Aber von den Stehplätzen hinten im Raum ruft ein junger Mann aus der Theatergruppe: "Bleiben Sie sitzen, Sie sind Gäste! Wir sitzen sowieso!" Der Bann ist gebrochen, es wird ein fröhlicher Gottesdienst mit noch fröhlicherem Kaffeetrinken und "Gitterkekse"-Essen im Anschluss.
"Verrückt, dass die Leute ins Gefängnis kommen"
Jetzt fragen die Besucher fast alles: "Wie lange sind Sie schon im Gefängnis? Wie lange noch? Wie oft bekommen Sie Besuch? Was wollen Sie später in Freiheit machen?" Sille (23) und Maggi (29) erzählen freimütig. Sille sitzt eine Jugendstrafe ab, die junge Frau muss noch zwei Jahre hier bleiben. Besuch? Ja, darauf hat sie ein Recht, wie alle hier: Vier Stunden im Monat. Sie teilt die Zeit gut ein. Der Dresdner Knast sei gut, die Zusammenarbeit mit den Bediensteten vor allem. Es sei ruhig hier - Sille sitzt nicht zum ersten Mal ein. Maggi findet es auch "schön", für Knast-Verhältnisse jedenfalls, besser zum Beispiel als in Berlin. In vier Wochen kommt er raus.
Wäre Maggi schon jetzt frei, würde er zum Kirchentag gehen. "Ich in katholisch", bekennt er, "aber ich finde, das spielt keine Rolle." Sille dagegen hat nicht so viel mit der Kirche zu tun. Was sie über den Kirchentag weiß, weiß sie aus dem Fernsehen: "Die suchten noch Schlafplätze. Wir hätten hier auch noch freie Betten!" Jana (27) findet es "verrückt, wie viele Leute ins Gefängnis kommen, um sich Gefangene anzuschauen." Kirche? Nein, ist nicht ihr Ding. Aber nun ist der Kirchentag hier in Dresden, und deswegen freut Jana sich doch: "Wir sind ein klitzekleiner Bestandteil vom Kirchentag."
Eine junge Besucherin schenkt ihr einen grünen Kirchentags-Schal. Jana strahlt. Überall auf der Wiese stehen sie nun in kleinen Gruppen zusammen und erzählen: Wie eins zum andern kam, wie das Leben irgendwie wegflutschte, wie sie auf Drogen kamen, verlassen wurden, nicht weiter wussten. Die Besucher fragen weiter und werden immer nachdenklicher. Am Ende der Veranstaltung tragen fast alle Gefangenen aus der Theater- und der Tanzgruppe einen grünen Schal über ihren weißen und weiß-blauen Kostümen.
Laura aus Kiel: "Die sind gar nicht verbittert"
Bewegende Schlussrunde: Alle stehen auf der Wiese im Kreis und singen "Und bis wir uns wiedersehen, halte Gott dich fest in seiner Hand", Seite an Seite, Besucher und Gefangene, nicht unterscheidbar. Alle einfach ganz normale Menschen. Dann werden die Gefangenen wieder hereingebeten. Händeschütteln, gute Wünsche. Der Wärter dreht den Schlüssel um. Ein letztes Winken. Kaum zu begreifen, dass man die neuen Bekannten jetzt hier zurücklassen muss.
Foto links: Kerstin Cramer und Uwe Weinert aus Speyer erzählen, wie sie die Begegnung mit den Gefangenen erlebt haben (Anika Kempf/evangelisch.de)
Was bleibt? Ein ganz anderes Bild von Gefängnis, als die meisten vorher hatten. Beim Reingehen hatte Laura Jansen aus Kiel ein sehr bedrückendes Gefühl: "Überall Beton und Gitter. Man hatte das Gefühl, man müsste die Leute hier eigentlich retten. Ich hab gleich losgeheult." Gefragt hat Laura sich auch, ob von den Gefangenen Gefahr ausgeht - im Nachhinein ein absurder Gedanke. "Mit der Zeit ging das weg", gesteht Laura, "weil die Leute Witze gerissen haben. Die sind gar nicht verbittert."
"Es ist ein ganz normales Leben, nur hinter Mauern", stellt Uwe Weinert aus Speyer fest. Seine Freundin Kerstin Cramer meint: "Ich hatte erst die Befürchtung, dass es voyeuristisch wird, aber den Menschen hier hat es wohl gut getan, gesehen zu werden." Genau, das war es: Wahrgenommen werden, Kontakt zu anderen Menschen haben. In nur drei Stunden seien ganz intime Kontakte entstanden, meint Kerstin Cramer. "Die JVA hat Namen und Gesichter bekommen".
Anne Kampf ist Redakteurin bei evangelisch.de und zuständig für die Ressorts Politik und Gesellschaft.
Anika Kempf ist Fotoredakteurin bei evangelisch.de