Fukushima und die deutsche Angst um das gefrorene Sushi

Fukushima und die deutsche Angst um das gefrorene Sushi
Der Weg deutscher Medien zum angemessenen Katastrophenjournalismus nach den Ereignissen in Japan war schwierig. Von Sensationalismus bis zu Unwissen war alles dabei. Eine Spurensuche durch die Medienlandschaft nach dem Dreierdebakel aus Erdbeben, Tsunami und Nuklearkatastrophe.
21.04.2011
Von Ralf Siepmann

"In vielen Ländern reagierten die Medien und die Menschen verstört, schockiert, ungläubig auf die Ereignisse in Japan. Aber Hysterie, Unprofessionalität und vor allem Gefühl- und Taktlosigkeit bis zum Zynismus: das war das ganz besondere Markenzeichen der deutschen Reaktion." So machte sich der deutsche Japanologe Reinhard Zöllner von der Universität Bonn am 28. März, dem Tag 17 nach Erdbeben, Tsunami und Reaktorkatastrophe von Fukushima, auf Welt Online Luft.

Der 49-jährige war gerade von einem Forschungsaufenthalt aus Tokio zurückgekehrt und zeigte sich "empört". Panische Reaktionen in der Öffentlichkeit nach dem Muster "Apokalypse jetzt!", Taktlosigkeit und Insensibilität gegenüber der Kultur Japans hatten Zöllner auf den Plan gerufen. Zwei Wochen später legte der Wissenschaftler in einer Pressekonferenz in Bonn nach. Die deutsch-japanischen Beziehungen, resümierte er, seien nachhaltig gestört.

Die deutschen Medien prägten hier natürlich das öffentliche Bild der Katastrophe. Beim dem Versuch, diese Berichterstattung in den fünf Wochen seit der Dreifachkatastrophe zu erfassen, deuten sich drei Phasen an, trotz aller Beschränkungen, die ein kursorischer Überblick mit sich bringt.

Die nach oben offene Katastrophenspirale

In der ersten Phase ist die Tendenz zum Reißerischen unverkennbar. Die "Hölle von Japan" ("Hamburger Morgenpost"/12. März) bietet Gelegenheiten in Hülle und Fülle, etwas für Auflage und Reichweite, Quote und Marktanteil zu tun. Immer wieder brandet die Welle des Grauens an der vom Tsunami zerstörten Küste über die Bildschirme. Nachrichtenkanäle scheinen sich darin zu überbieten, die schrecklichen Bilder von zerfetzten Städten und Landschaften, das Chaos von zerschmetterten Autos, Fähren, Frachtern sowie verschütteten Straßen in einer Endlosschleife präsentieren zu wollen.

In der nach oben offenen medialen Katastrophenspirale braucht es nur wenige Drehungen, um innerhalb von zwei Tagen aus dem "Armageddon" ("Wochenend tz"/12. März), dem "Beben der Welt" ("Welt"/12. März) ein deutsches Menetekel zu machen. Nicht die Geschichten über das Leid der Menschen in den betroffenen Regionen Miyagi, Fukushima und Iwate und der Kampf der Helfer um das Leben der Opfer rücken in das Zentrum. Die Redaktionen weiten die "Angst vor dem Atom-Gau" ("Express"/12. März) zur nationalen Prüfung aus, der sich auch die Politik ausgesetzt sieht. "Folgt auf Japan das Ende des Atomzeitalters?" fragen die "Stuttgarter Nachrichten" am 14. März. Das "Ende des Atomzeitalters" konstatiert "Der Spiegel" noch am selben Tag. "Es war", notiert Zöllner, "als ginge für die Deutschen eine Welt unter."

Was in dieser Phase indes auch untergeht, sind essentielle journalistische Standards: Distanz zum Geschehen, Unvoreingenommenheit, Recherche. "Ich muss aufpassen", sagt Mycle Schneider dem Magazin "journalist" (April-Ausgabe), "nicht aggressiv zu werden." Deutsche Journalisten, berichtet der gefragte Experte für Atomenergie, hätten schon in der ersten Woche nach dem Beben wissen wollen, "ob man jetzt noch gefrorenes Sushi essen kann".

Ähnlich "absurde" Medienanfragen haben auch Zöllner genervt. Als zahlreiche Deutsche in großer Anteilnahme jedoch auch ebenso großer Naivität Japanern aus den zerstörten Präfekturen Evakuierungsangebote gemacht hätten, sei dies begreiflicherweise ohne Resonanz geblieben. Daher habe eine "Spiegel"-Redakteurin halb entrüstet bei dem Philosophen Kenichi Mishima nachgefragt, warum denn die Japaner so verbohrt seien, weiterhin in ihrem Land leben zu wollen.

Infografiken haben Hochkonjunktur

Während Zöllner die Unfähigkeit von Journalisten kritisiert, unaufgeregt und angemessen zu berichten, beklagt Schneider einen Mangel an Fachkompetenz. Anstatt nach Tschernobyl die Experten auf dem Feld der Kernenergie "zu pflegen", habe man diesen Bereich "austrocknen lassen". Die Menge an Unsinn, die verbreitet werde, resümiert der Atomexperte seine aktuellen Erfahrungen, "ist schon ziemlich spektakulär".

Erst in der zweiten Phase der Fukushima-Berichterstattung, nach der Nuklearwende der Bundesregierung auf Grund des fundamentalen Stimmungsumschwungs im Land, wenden sich die Medien dem Bereich Analyse und Hintergrund zu. Ein starkes Indiz: Anspruchsvolle Regionalzeitungen, die überregionalen Blätter und Politmagazine spielen nun ihr Prä aus, in Illustrationen die Katastrophe im AKW Fukushima Daiichi zeigen zu können.

Seitdem haben Infografiken Hochkonjunktur. "Wir beobachten eine massive Steigerung des Wertes von Grafiken", bestätigt Carsten Wieland, Leiter Unternehmenskommunikation der Deutschen Presseagentur. dpa habe mit einer Großzahl der Medien Abonnementverträge über Grafikleistungen abgeschlossen und vor kurzem zur Intensivierung des Austausches mit Kunden eine interaktive Website eingerichtet. Fukushima habe hier einen äußerst lebhaften Dialog zwischen Grafikanbietern und Redaktionen ausgelöst. Grafik, sagt Wieland, erlebe seinen "hay day": "Fotos zeigen, was man sehen kann. Mit Grafiken können wir das veranschaulichen, was sich eben nicht fotografieren lässt. Dies gilt nun mal besonders für die Kernenergie."

Nachdenklichkeit und Sorgfalt erobern sich Zeitungsspalten und Sendeplätze. Die öffentliche Meinung wirkt auf die veröffentlichte bisweilen zurück. Die teilweise hilflosen Versuche von Journalisten, die "ReiSei", die Gefasstheit der Japaner unter dem Schock zu erklären, haben zahlreiche kritische Stimmen zur Folge. Das jetzige Schweigen der Japaner habe weniger mit japanischer Tugend zu tun, schreibt der Leipziger Geisteswissenschaftler Toshiaki Kobayashi dem "Focus" (28. März), "sondern ist vielmehr eine Zurücknahme des Sprechens angesichts der wirklich dringenden Fragen."

Das Thema hält sich länger als vier Wochen

Nun, in der dritten Phase des Katastrophenjournalismus, richtet sich der Blick der Reporter stärker auf die Menschen, die Opfer wie die Helfer. Willi Germund, langjähriger Asienkorrespondent von Zeitungen im deutschsprachigen Raum, apostrophiert letztere als "Atom-Samurai" (Bonner "General-Anzeiger"/4. April). Germund hat sich nicht ins relativ sichere Tokio oder gar Osaka zurückgezogen. In den letzten März-Tagen gibt er den Überlebenden in den Katastrophengebieten Gesicht und Stimme.

Germund schildert die Zerstörungen am Beispiel des Dorfes Taro ("Es war wie eine schwarze Wand"). Er beschreibt unter dem Eindruck des Fleckens Otomo in der Präfektur Iwate das "Ende der vergessenen Dörfer". In der Saitama Super Arena in einem Vorort von Tokio spricht er mit den Vertriebenen von Futuba. So wird ihr Leben "zwischen Pappkartons" für uns erfahrbar, wenn dies dann ein Leben ist. Auf dem Onlineportal DerWesten prangert er unter diesen Eindrücken "Japans kriminellen Leichtsinn" im Umgang mit dem AKW Fukushima an (3. April).

Forscher behaupten, kein Thema schaffe es, sich länger als vier Wochen prominent in den Medien zu behaupten. In der dritten Phase der Fukushima-Berichterstattung lassen sich Anzeichen für eine Relativierung dieses Prinzip beobachten. Lokalredaktionen entdecken "die Japaner in unserer Stadt", etwa "den Geiger aus Fukushima", der in Bad Honnef lebt. Hirotaka Aisawa sagt: "Ich denke über ein Benefizkonzert nach."

"Wir kommen zurück, Welt"

Es schlägt die Stunde der Reporter. Ihre vielen kleinen Geschichten in der Tragödie tragen dazu bei, die größte Katastrophe Japans seit 1945 in den Medien präsent zu halten. Als hätte der unerschrockene Germund den Anstoß gegeben, schickt "Der Spiegel" ein Reporterteam in die Katastrophengebiete: "Leben mit dem Gau" (11. April). Asien-Korrespondent Georg Blume porträtiert in der "Zeit" (14. April) den Kommunalpolitiker und AKW-Kritiker Kazuyoshi Sato: "Einer gegen Tepco".

In den ARD-Tagesthemen am 7. April gibt es einen Bericht über "Mijako Desastre FM". Drei Tage nach der Katastrophe hatten sich Bürger der Stadt spontan entschlossen, ein Radio in Gang zu setzen, um die Suche nach Vermissten zu unterstützen. "Wir kommen zurück, Mijako!", lautet die Botschaft ihres Radios. Zurück in die Medien ist auch die junge Frau gekommen, deren Bild - bloß umhüllt von einer Wolldecke in den Trümmern stehend – um die Welt gegangen war.

Fünf Wochen nach Beben und Tsunami hält Yuko Sugimoto (28) ihren fünfjährigen Sprössling Raito wieder in den Armen. "Trümmerfrau findet ihren kleinen Sohn wieder", lautet die Schlagzeile bei "Bild" (18. April). Es ist dies einer der Momente, in denen das Leben seinen größten Ausdruck findet: "Wir kommen zurück, Welt".


Ralf Siepmann ist Medienexperte und freier Journalist in Bonn.