Der Karfreitag gilt im Protestantismus als höchster Feiertag. Warum nicht Weihnachten oder Ostern? Der Grund liegt darin, dass aus reformatorischer Sicht mit dem Tod des Gottmenschen das Bahnbrechendste und Heilsamste für uns Menschen überhaupt passiert ist. Selbstverständlich hängt das Geschehen von Golgatha mit dem von Weihnachten und Ostern zusammen. Doch das am Karfreitag zu Feiernde stößt ins Allertiefste vor.
Zusammenstoß von Gott und Tod
Gott hätte Mensch werden können, ohne einen Hinrichtungstod auf sich zu nehmen, ja ohne sterben zu müssen – man denke etwa an die Geschichte von der Himmelfahrt des Propheten Elia. Weihnachten ohne Karfreitag – das wäre denkbar; aber dann wäre Gott nicht dem Tod begegnet. Dann hätte auch das Wort aus Jesaja 53 nicht wahr werden können: "Die Strafe liegt auf ihm, damit wir Frieden hätten." Ostern wiederum ist selbstverständlich ein gigantisches Fest: Der Tod ist besiegt, für Jesus, in dem Gott zu uns kam – und damit bereits im Ansatz für uns alle, ja für die ganze Schöpfung. Aber der Auferstandene, das leere Grab, das ist die Konsequenz aus dem eigentlich noch Unvorstellbareren, das sich auf Golgatha ereignet hat: der Zusammenstoß von Gott und Tod. Daraus musste Auferstehung werden, Ewigkeitseröffnung für uns Sterbliche.
Deshalb ist der Karfreitag ein unüberbietbarer Feiertag. Hier geht es um das Zusammendenken dessen, was sich eigentlich auszuschließen scheint: Der heilige Gott gilt als schlechthin unsterblich – und als so heilig, dass er uns Schuldbeladenen, Unheiligen nicht zu nahe kommen kann. Höchstens als künftiger Richter. Die Botschaft vom Karfreitag sprengt diese Sichtweise – für immer! In Jesus Christus wird der Richter zum für uns Gerichteten. In seiner Hingabe hat Gott selbst gehandelt (2. Kor 5,19) und uns die Tür zum ewigen Leben geöffnet. Darum wollte Martin Luther explizit Kreuzestheologe sein. Hatte doch schon Paulus geschrieben: "Es sei aber fern von mir, mich zu rühmen als allein des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus, durch den mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt" (Galater 6,14).
Den Karfreitag vergessen?
In letzter Zeit sind unter protestantischen Theologen Stimmen aufgekommen, die zum Abschied von der Heilsbedeutung des Todes Jesu auffordern. Man vergesse demnach Jesaja 53: "Der Herr warf unser aller Sünde auf ihn". Man vergesse Markus 14: "Das ist mein Blut des Neuen Bundes, das für viele vergossen wird." Man vergesse Römer 3 und Hebräer 9. Das hieße: Man vergesse den Karfreitag.
Jens Peter Jacobsen hat in der Erzählung "Die Pest von Bergamo" folgendes Szenario entwickelt: Ein junger, eifernder Mönch predigt darüber, wie Christus am Kreuz angesichts der spottenden Menschenmenge von Zorn und Verachtung erfüllt wurde – und deshalb schließlich seine Füße und Hände aus den Nägeln riss, auf die Erde hinuntersprang, sein Gewand an sich raffte und zum Himmel auffuhr. "Es gibt keinen Mittler zwischen Gott und uns", rief der Mönch, "es ist kein Jesus für uns am Kreuz gestorben. Versteht ihr: Es ist kein Jesus für uns am Kreuz gestorben!" Ähnlich tönen auch einige Gegenwartstheologen.
Dagegen fragte bereits der vor 150 Jahren geborene Hermann von Bezzel, ein führender Lutheraner seiner Zeit: "Was habt ihr denn, wenn ihr das Kreuz Jesu nimmer habt? Wer hilft euch denn in der Todesstunde, wenn Er nicht hilft?" Ich meine: Wenn kirchlich Verantwortungstragende die Heilsbedeutung des Kreuzes Christi bestreiten, üben sie Verrat am Zentrum der christlichen Heilsbotschaft. Statt diese mit ihren zum Teil nicht gerade "zeitgemäßen" Bildern in Worte und Bilder unserer Zeit zu übertragen, statt ihren Sinn für uns Heutige zu übersetzen, schütten sie das Kind mit dem Bade aus.
Kein blutrünstiges Opfer
Was viele Generationen als Wort der Weisheit und der Kraft überliefert haben, wird entleert und karikiert. Beispielsweise wird gesagt, Gott könne doch nicht "blutrünstig" den Opfertod seines Sohnes "gebraucht" haben. So banal steht es allerdings auch nicht im Neuen Testament! Dort geht es um das, was wir brauchen: Gottes heilvolle Identifikation mit uns Sterblichen und vor ihm Schuldigen. Und genau die hat Gott in seinem Sohn vollzogen.
Hier geht es nicht um beliebige theologische Meinungen, sondern um kirchliche Zentrallehren. So viel Intoleranz muss sein, dass deutlich Nein gesagt wird zu denen, die hier innerkirchlich Nein sagen und intolerant zum Nein aufrufen. Wir haben Glaubens- und Religionsfreiheit in unserer Gesellschaft. Innerhalb der Kirche geht es aber um das Bekenntnis zu dem, der die Freiheit eines Christenmenschen erst möglich gemacht hat: der gekreuzigte und auferstandene Christus. Der Karfreitag dient dem immer wieder neuen Hineintauchen in die Bedeutung dessen, was sich einst auf Golgatha ereignet hat. In Gottesdiensten, aber auch im "stillen Kämmerlein" ist spirituelles Ringen um zunehmendes Verstehen angesagt. Hier steht Begegnung an mit dem lebendigen Geist des Gekreuzigten und Auferstandenen selbst.
Prof. Dr. Werner Thiede ist Pfarrer der bayerischen Landeskirche und lehrt seit 2000 außerplanmäßig Systematische Theologie an der Universität Erlangen-Nürnberg. Seit 2006 arbeitet er als theologischer Referent beim Regionalbischof im Kirchenkreis Regensburg. Thiede ist Verfasser und Herausgeber etlicher Bücher, darunter "Der gekreuzigte Sinn. Eine trinitarische Theodizee" (Gütersloh 2007) und "Mystik im Christentum. 30 Beispiele, wie Menschen Gott begegnet sind" (Frankfurt a.M. 2009).