Libyen: "Sie folgen den Schreien der Babys"

Libyen: "Sie folgen den Schreien der Babys"
Die Menschen im libyschen Misurata durchleben die Hölle auf Erden. Die Truppen des Regimes töten, misshandeln, demütigen und bestehlen sie. Überlebende erzählen einer dpa-Reporterin ihre Geschichte.
17.04.2011
Von Kate Thomas

Als der 65-jährige Mohammed Scherif vor 35 Jahren ein Haus in der Tripolis-Straße erwarb, kaufte er sich in eine der besten Adressen Misuratas ein. Zur Villa im italienischen Kolonialstil gehörte ein großer Garten mit Zitronenbäumen und Wacholdersträuchern. Vom nahen Gemüsemarkt brachte seine Frau Mariam pralle Auberginen und saftige Tomaten mit, wenn sie von der Arbeit heimkam.

Heute ist dieses Idyll das am erbittertsten umkämpfte Schlachtfeld im Ringen der Libyer mit den rücksichtslosen und brutalen Milizen des Diktators Muammar al-Gaddafi. Während ganz Misurata unter wochenlanger Belagerung und Raketenbeschuss leidet - zuletzt erhärteten sich Hinweise, dass die Gaddafi-Truppen sogar weltweit geächtete Streumunition gegen die Stadt einsetzen -, ist der Gemüsemarkt an der Tripolis-Straße das Epizentrum des Häuserkampfes.

Mohammed und Mariam Scherif gelang an Bord eines kleinen Fischerbootes die Flucht aus dieser Hölle. "Als wir zum Hafen gingen, drehte ich mich um und warf einen letzten Blick auf die Tripolis-Straße", erzählt der pensionierte Grenzwachbeamte nun in Bengasi, der sicheren Metropole der Regimegegner im Osten Libyens. "Es war nicht mehr die Straße, die ich liebte. Leichen lagen in der Gosse, Heckenschützen lauerten auf den Dächern. Statt Häusern waren da schwarze Brandruinen, und der Gemüsemarkt sah aus wie ein Schlachthaus."

Kein Essen, kein Wasser, keine Nachrichten von draußen

Die Hausfrau und Großmutter Halima Busch Alaa harrte mit ihrer Familie im Kriegstreiben vier Tage in ihrem Haus aus. "Wir hatten nichts zu essen, kein Wasser und keine Nachrichten von den Vorgängen draußen", erinnert sie sich an diese Zeit des Horrors. "Schließlich machte sich mein Sohn auf den Weg, um Brot aufzutreiben. Ein Heckenschütze erschoss ihn. Seine Leiche kippten sie uns vor die Tür", sagt sie, verstört an ihren Fingernägeln kauend, deren Henna-Färbung verblasst ist.

Am Ende brachen Söldner der Gaddafi-Truppen in ihr Haus ein und nahmen mit, was sie fanden: Geld, Goldschmuck, die Schlüssel des Familienwagens. Mit Gewehrkolben schlugen sie auf Busch Alaa ein. "Ich blutete vier Tage lang, aber der Weg ins Krankenhaus war nicht sicher." Das schlimmste seien die vor Hunger schreienden Kinder gewesen. "Wir mussten ihnen den Mund zuhalten, damit die Heckenschützen sie nicht hörten. So finden sie die Familien, sie folgen den Schreien der Babys."

Einige versuchten mit Tricks die Regime-Söldner abzulenken. Sabri Dua warf Bälle in ihre Richtung und baute aus einem Teddybär eine Art Vogelscheuche, die er vor sich hertrug, in der absurden Hoffnung, die hartgesottenen Todesschützen zu erweichen oder zu verwirren. "Wir waren einfach verzweifelt", sagt er.

"Wir werden ihn nicht gewinnen lassen"

Bild links: Die Hülle einer der Streubomben, die Gaddafis Truppen über Misurata abwarfen. Foto: dpaEPA/Medical Committee Misurata Hospital

Scherif beobachtete Gaddafis Soldateska durch ein kleines Loch in der Mauer seines Anwesens. Oft seien sie stark betrunken gewesen. "Für sie ist es ein Spiel. Wie Schießbuden-Schießen. Wie viele Familien können wir abknallen?" Auch an obszönen Grausamkeiten sollen sie ihren Spaß gefunden haben.

Über das Gesicht von Scherifs Cousin hätten sie Urin und Fäkalien gegossen und dann versucht, ihn zu erwürgen. Doch als ihn ein Soldat nach dem Namen fragte, stellte sich heraus, dass er einem Stamm aus Sirte, der Geburtsstadt Gaddafis, angehört. Mit seinem Peiniger war er sogar weitläufig verwandt. Man ließ ihn laufen.

"Misurata steht Gaddafis Plänen im Weg. Er will die Stadt zerstören, damit er in Sirte wieder groß dastehen kann", ist Scherif überzeugt. In der Tat liegt Libyens drittgrößte Stadt etwa auf halbem Weg zwischen Tripolis und Sirte und muss von den Gaddafi-Truppen auf Ausweichstrecken umfahren werden. "Aber wir werden ihn nicht gewinnen lassen."

Scherif wird kurz nachdenklich: "Wenn Misurata ein Buch ist, dann ist die Tripolis-Straße der Buchrücken. Gaddafi kann Misurata nicht zerreißen, ohne den Buchrücken zu zerfetzen. Ich bin sicher, wir kehren wieder zurück in unser Haus in der Tripolis-Straße. Die Zitronenbäume in meinem Garten tragen immer noch Früchte."

dpa