Auf der Suche nach Geschichten hinter den Grabsteinen

Auf der Suche nach Geschichten hinter den Grabsteinen
Geschichten hinter den Gräbern des größten Jüdischer Friedhof Europas: Für "Im Himmel, unter der Erde" hat sich die Regisseurin Britta Wauer auf dem Jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee umgesehen.
08.04.2011
Die Fragen stellte Igal Avidan

Wie entstand die Idee zu diesem Film über den jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee?

Britta Wauer: Der damalige Fernsehdirektor des RBB fragte mich, ob ich mir vorstellen könnte, so einen Film zu drehen. Ich habe mich gefragt, warum man einen solchen Film machen solle, wenn jeder den Friedhof anschauen oder Bücher über die dort Begrabenen lesen kann. Je länger ich darüber nachdachte, umso klarer wurde mir, dass ich, wenn ich einen Film machen will, die Geschichten hinter den Grabsteinen erzählen müsste, die man nicht sehen kann, und die 130-jährige Geschichte des Friedhofes erzählen.

Wie sind Sie an diese Geschichten herangekommen?

Wauer (Bild links): Herman Simon, Leiter des Centrum Judaicums, gab mir den Tipp, einen kleinen Artikel in der Zeitschrift Aktuell zu veröffentlichen, die der Berliner Senat an ehemalige Berliner in die ganze Welt verschickt. Kaum erschien dieser Text im Mai 2007, erhielt ich Post. Innerhalb von zwei-drei Wochen 200-300 kamen Briefe voller Geschichte, Fotos und Stammbäume von Menschen, deren Familien in den 1930ern geflohen waren. Sie baten mich umzuschauen, ob der Grabstein ihrer Verwandten noch steht. Ich war völlig überwältigt, denn auf dem Friedhof sind 115.000 Grabsteine. Zum Glück haben meine drei Praktikanten geholfen und wir haben diese Grabplätze gesucht. Die Korrespondenz füllt bereits zwölf Ordner.

Hatten Sie ein schlechtes Gewissen, dass Sie die meisten dieser Verstorbenen in einem Film nicht berücksichtigen konnten?

Wauer: Ja, genau. Deswegen hatte ich schnell die Idee, auch ein Buch mit den Fotos der Grabsteine damals und heute und mit kleinen Geschichten zu den Begrabenen zu schreiben. Über diese Briefe haben wir drei Protagonisten im Film, die über verschiedene Kapitel der Friedhofsgeschichte erzählen.

Hatten Sie Hemmungen, den jüdischen Friedhof zu betreten?

Wauer: Nein, ich kannte ihn schon viele Jahre, denn ich bin in Ost-Berlin groß geworden und habe in der Fabrik, die an den Friedhof grenzt, im Schulunterricht gearbeitet – im Schulfach produktive Arbeit. Als wir auf dem Friedhof gedreht haben, aßen wir dort niemals.

Einer Ihrer Protagonisten erzählt über die Zeit, die er auf dem jüdischen Friedhof während des Zweiten Weltkriegs zusammen mit seinem Vater, der dort gearbeitet hat, verbrachte. Wie ist es zu erklären, dass die Nazis den Friedhof unter jüdischer Verwaltung offen ließen?

Wauer: Ab einem bestimmten Zeitpunkt gab es Wichtigeres zu tun. Andererseits wurde der jüdische Friedhof gebraucht, denn es sind ja immer wieder Juden gestorben: Juden, die entweder sich irgendwo versteckt gehalten haben oder die mit einem ‚Arier‘ verheiratet waren. Und in solchen Fällen war es den christlichen deutschen Bürgern nicht zuzumuten, hieß es, dass ein Jude auf ihrem deutschen Friedhof begraben wird. Deswegen brauchte man einen jüdischen Friedhof.

Der Friedhof wurde noch einmal zu DDR-Zeiten gerettet.

Wauer: Es gab schon viel früher einen Plan, eine Straße durch den Friedhof zu legen. Als um 1985 beschlossen wurde, den Friedhof mit einer Schnellstraße zu durchschneiden, hoben sich heftige Proteste in der Kirchen- und Frauenbewegung der DDR dagegen. Ausschlaggebend war das Schreiben des damaligen Vorsitzenden der West Berliner Jüdischen Gemeinde, Heinz Galinski, an Erich Honecker. Die Bagger standen schon bereit, als Honecker den Bau der Straße absagte, weil er auf eine Einladung in die USA hoffte.

Rabbiner William Wolf begleitet den Film als Experte. Warum haben Sie keinen Berliner Rabbi für diese Berliner Geschichte ausgesucht?

Wauer: Es war eben sehr kompliziert, einen Berliner Rabbiner zu finden, der repräsentativ für die jüdische Gemeinde über den jüdischen Friedhof spricht. Berlin hat eine Einheitsgemeinde hat mit Orthodoxen und Liberalen. Wenn ich gesagt habe, ich brauche einen Rabbiner, der mir über die jüdischen Trauerrituale erklärt, entstand eine große Diskussion darüber, wer dazu berechtigt ist, mir Auskunft zu geben. Schließlich wurde mir vom Zentralrat Rabbiner Wolf empfohlen, der Landesrabbiner von Mecklenburg-Vorpommern, der in Berlin aufwuchs, bevor die Familie vor den Nazis nach England flüchtete.

In Ihrem Film kommen nicht nur Tote vor, sondern auch Menschen, die auf dem Friedhof wohnen.

Wauer: Ja, dieses Paar mietete dort eine Wohnung im Verwaltungshaus und findet das eine perfekte Wohnung mit einem privaten Garten vor der Haustür. Ihr kleines Kind wächst zwischen den Grabsteinen. Aber als der Friedhof zum Shabbat zumacht, gehen sie dort nicht spazieren und lassen auch keine Besucher herein.

Das Buch "Der Jüdische Friedhof Weißensee. Momente der Geschichte“"ist im Bebra Verlag (Berlin) auf Deutsch und Englisch erschienen und kostet 24,95 Euro. Der Soundtrack des Films erscheint bei Alhambra Records. Der Film ist am Donnerstag, 7. April, in ausgewählten Kinos gestartet.


Igal Avidan ist freier Journalist in Berlin.