Keine Panik in Japan: "Die Welt ist, wie wir sie gemacht haben"

Keine Panik in Japan: "Die Welt ist, wie wir sie gemacht haben"
Japan nach der Katastrophe: Für uns Europäer ist es bemerkenswert, wie diszipliniert die Menschen dort mit der Situation umgehen. Die Betroffenen in den Notaufnahmelagern bleiben relativ ruhig, und auch in der Metropole Tokio ist angesichts der atomaren Bedrohung keine Panik zu spüren. Warum die Menschen in Japan sich so unaufgeregt und vernünftig verhalten, erklärte Reinhard Zöllner im Gespräch mit evangelisch.de. Er ist Professor für Japanologie an der Universität Bonn und hält sich zu einem Forschungssemester in Tokio auf.
16.03.2011
Die Fragen stellte Anne Kampf

Wie ist momentan die Situation in Tokio? Was nehmen Sie wahr?

Reinhard Zöllner: Ich bin heute ganz normal mit S-Bahn und U-Bahn durch die Stadt gefahren. Die Menschen gehen ihrer Arbeit nach, wie sie es gewohnt sind - mit der Ausnahme, dass es Einschränkungen im Komfort gibt. Die Züge fahren nicht so oft wie gewohnt. Es muss Strom gespart werden, deswegen gibt es rotierende Stromsperren. In manchen Bereichen sind die Lebensmittel knapp geworden, weil die Menschen sich mit Vorräten eingedeckt haben und ihnen klar ist, dass es Lieferengpässe gibt.

Ist Angst vor der atomaren Bedrohung zu spüren?

Zöllner: Anspannung ist zu spüren. Man schaut fleißig Nachrichten, man versucht sich ein Bild zu machen und überlegt natürlich auch Exit-Strategien: Was machen wir, wenn es ganz dicke kommen sollte? Nun ist die Bedrohungslage in Tokio allerdings nicht dramatisch. Ich selbst und viele andere verfolgen die Belastungswerte, und die bewegen sich im Rahmen des absolut Normalen und überhaupt nicht weiter für die Gesundheit bedrohlich.

Es gibt ja dennoch Leute, die jetzt schon aus Tokio fliehen und weiter in den Süden fahren. Wie ist es denn für Sie - wollen Sie dableiben?

Zöllner: Ich habe planmäßig meinen Rückflug Ende März und sehe keinen Anlass das zu ändern. Es ist nicht nur die atomare Bedrohung, die einen veranlassen könnte, aus Japan wegzugehen. Ich denke, viel entscheidender ist die Unsicherheit: Was ist, wenn ein neues Erdbeben kommt? Es gibt ständig kleinere und größere Nachbeben, und selbst wenn die nicht zu direkten Schäden führen, dann doch möglicherweise zu Schäden an der Infrastruktur und zu weiteren Lieferengpässen. Das macht die Sache möglicherweise dann doch für einige so unbequem und bedenklich, dass sie es vorziehen, sich zurückzuziehen.

Man hat aus der Entfernung den Eindruck, dass die Japaner sich nicht so leicht stressen lassen. Ist das auch Ihre Erfahrung?

Zöllner: Also, das Wort "stressen" ist nicht der richtige Ausdruck, denn die Japaner arbeiten ganz hart und unermüdlich daran, die Probleme jetzt zu bewältigen. Es gibt ja diesen hübschen preußischen Wahlspruch "Ruhe ist erste Bürgerpflicht" in solchen Situationen, und der ist hier sehr lebendig. In klassischem Sinne "Pflicht" verstanden als das, was man tun muss, damit andere keinen Schaden erleiden. So verstehen die Japaner vom S-Bahn-Fahrer bis hin zum Kaufhaus-Angestellten ihre Aufgabe hier.

Vertrauen die Japaner ihren Behörden? Wenn beispielsweise gesagt wird, "Die Lage ist in Tokio relativ sicher", glauben die Leute das dann?

Zöllner: Sie vertrauen ihnen, aber sie sind nicht naiv. Das ist jetzt kein blindes, sondern durchaus kritisches Vertrauen, und man denkt auch, dass das eine oder andere möglicherweise nicht die ganze Wahrheit ist. Auch beispielsweise gegenüber dem Stromunternehmen, das diese Atomkraftwerke betreibt, gibt es durchaus die Vermutung und den Verdacht, dass da jetzt nicht alles offen und ehrlich bekannt gegeben wird. Aber auf der anderen Seite denke ich mal, das Vertrauen, das die Menschen, die mit der Bewältigung dieser Krise jetzt beauftragt sind - und das sind ja Hunderttausende von Menschen im Einsatz - dass die wirklich alles tun, um das in den Griff zu bekommen. Das glaubt man schon. In dieser Situation wäre es völlig kontraproduktiv, aufzustehen und zu sagen "Jetzt müssen wir das aber mal ganz anders machen!" oder "Was soll das?" - da gibt es ein hohes Maß an Selbstdisziplin, zu sagen: "Wir sehen, dass es Dinge gibt, die unvermeidlich sind im Moment, und das nehmen wir hin."

Was bekommen Sie mit von Aufräumarbeiten und Bergungsarbeiten in den zerstörten Gebieten an der Küste?

Zöllner: Das Fernsehen zeigt praktisch rundum Bilder, wie Soldaten, Feuerwehr, Polizisten, Ärzte, Krankenschwestern - all die Menschen, die in der Lage sind, etwas beizutragen zur Ersten Hilfe und auch zum ersten Ordnen - hier im Einsatz sind. Das ist bemerkenswert, das ist phänomenal.

Wie nehmen sie die Situation in der Atomanlage Fukushima wahr? Hat sich aus Ihrer Sicht die Lage noch mal verschlechtert und die Bedrohung gesteigert?

Zöllner: Ja sicher. Es nimmt ja keine Ende. Und das kostet hier durchaus auch Nerven: Zu sehen, dass kaum wenn eine Lücke geschlossen ist, auf der anderen Seite wieder was passiert, und dass es sich ja jetzt um drei oder sogar vier Reaktoren handelt, die kritisch sind, das entsetzt schon, natürlich. Da macht man sich auch große Sorgen. Auch die Japaner, die Regierung sagt ja ganz offen: Das ist eine Situation wie sie noch nie dagewesen ist. Mit so was hat niemand gerechnet! Jetzt ist es plötzlich da. Die Fachleute sind entsetzt und das liest man ihnen durchaus an den Gesichtern ab. Aber jetzt in dieser Situation zu sagen: Jetzt schmeißen wir alles hin und machen Weltuntergang - das wäre hier im Land, glaube ich, nicht möglich.

Man versucht also erst, die Probleme zu lösen - und anschließend denkt man nach. Ist es das?

Zöllner: Kann man so sehen. Im Moment ist es am wichtigsten, erstens den Menschen zu helfen, die im Krisengebiet in Not geraten sind, zweitens dafür zu sorgen dass es keine schlimmen Folgen hat für die übrigen Menschen. Drittens käme dann der Schritt, nachzudenken: "Ist das, was wir getan haben, wirklich das richtige gewesen?" Und dann, denke ich, kommt der letzte Schritt zu sagen: "Ist das, was wir die letzten 40 Jahre getan haben, nämlich keine Diskussion zu führen und das den technischen Experten zu überlassen, also letztlich den Elektrizitätsgesellschaften die Verantwortung zuzuschieben, ist das die richtige Art gewesen?" Ich denke, da wird ein Umdenken stattfinden, aber dafür gibt es im Moment überhaupt keine Zeit und keine Ruhe.

Gibt es auch keine Proteste gegen Atomkraft im Allgemeinen?

Zöllner: Es gibt natürlich Atomkraftgegner, allerdings sind die nicht nennenswert aufgefallen bisher. Es gibt eine grüne Partei, aber die hat keinen großen Wähleranhang. Sie erinnern sich ja vielleicht aus der Geschichte daran, dass die Japaner gegen die Atombombe aus eigener leidvoller Erfahrung immer sehr aktiv agiert haben und auch immer gesagt haben: "Wir sind gegen Atomwaffen". Aber auf der anderen Seite hat man - wie viele andere ja auch - sich der friedlichen Nutzung der Kernenergie verschrieben, in der Hoffnung, dass das eine bessere Zukunft für die Menschheit mit sich bringen würde. Das war ja auch der Standpunkt von Albert Einstein direkt nach dem Zweiten Weltkrieg. Es ist eine große, aber - wie wir jetzt sehen - fürchterlich enttäuschte Hoffnung.

Wie ist denn Ihre eigene Haltung dazu? Würden Sie sagen, Japan sollte versuchen, jetzt von der Kernenergie wegzukommen und auf regenerative Energien umzusteigen?

Zöllner: Das ist in diesem Land zunächst mal sehr schwer, weil nach dem ersten Erdölschock Anfang der Siebziger, als man merkte, wie abhängig man war von Erdölimporten, die Atomenergie als primärer Energieträger aufgebaut worden ist. Heute ist die Abhängigkeit vom Atomstrom so groß, dass man sie nicht einfach abschalten kann. Dann würde Japan buchstäblich das Licht ausschalten. Das heißt, bis man eine Alternative aufbauen kann, die tragfähig ist für die sehr große und aktive japanische Industrie - das dauert lange. Ich habe gerade heute gelesen, dass Siemens Japan angeboten hat, als Brückentechnologie konventionelle Kraftwerke zu bauen, aber Sie wissen ja, wohin das dann wieder führt. Japan macht sich ja auch gegen die Klimaerwärmung stark. Da wäre man zwischen Skylla und Charybdis gefangen. Man kann das durch die Kernenergie, wenn man sie richtig beherrscht, auffangen.

Wenn man sie denn richtig beherrscht...

Zöllner: Die Vorstellung, dass man Technologie beherrschen kann, ist in Japan verbreitet. Das ist richtig. Das ist eine Haltung, die man natürlich kritisieren kann. Ich denke mal, die Deutschen sind im Grundsatz sehr skeptisch gegen jede Art von Technologie. Aber wir müssen uns natürlich ja auch fragen: Woher kommt das, dass ausgerechnet die Deutschen diese Skepsis haben, die ja nun bestimmte Techniken - etwa der Massenvernichtung - ja auch in großem Maßstab zu beherrschen gelernt haben. Das kann möglicherweise zusammenhängen (aber da spekuliere ich nur, dafür bin ich kein Spezialist), dass in Deutschland die Romantik im Sinne einer eher gegen Moderne und gegen moderne Technik gerichteten Strömung seit dem 19. Jahrhundert unverändert sehr stark ist.

Und wie beschreiben Sie die Einstellung zur Technik in Japan?

Zöllner: Es besteht die Vorstellung, dass der Mensch aus eigener Kraft die Welt beherrschen und gestalten kann. Das führt natürlich auf die religiös-kulturellen Grundlagen zurück. Also die Frage: Was ist die Welt eigentlich? Ist die Welt eine Schöpfung, die wir hinzunehmen haben und über die wir keine hundertprozentige Verfügungsgewalt haben - oder ist sie das Produkt unseres eigenen Handelns? Und wenn man Japaner so fragen würde (irgendwo in der fernen Mythologie gibt es zwar eine Schöpfungslehre, aber die ist allegorisch zu sehen), der durchschnittliche Japaner würde Ihnen selbstverständlich sagen, dass die Welt so ist, wie wir sie gemacht haben.


Reinhard Zöllner ist Professor für Japanologie an der Universität Bonn. Auf seiner Internetseite bloggt er über die aktuelle Situation in Japan. Zöllners Motto ist ein Vers aus Psalm 65: "Du machst fröhlich, was da lebet im Osten wie im Westen."