Nun haben sie es also doch noch geschafft: Die Einigung beim leidigen Thema Hartz IV ist da. Ausgerechnet eine Allparteien-Altherrenrunde brachte zu Stande, woran Familienministerin von der Leyen (CDU) und SPD-Verhandlungsführerin Schwesig zuvor gescheitert waren. Ob diese sich im "Zickenkrieg" verzettelten oder einfach nur höhere Ansprüche an ein vernünftiges Resultat hatten, muss vorerst offen bleiben. Jedenfalls geht ein über Monate anhaltendes, ebenso kleinliches wie peinliches Politgezänk zu Ende. Das ist eine gute Nachricht.
Auch das Ergebnis kann sich auf den ersten Blick sehen lassen, obwohl man sich fragt, warum das alles nicht schon längst beschlossen wurde. Der Regelsatz der Grundsicherung wird Anfang 2012 mehr als zehn Euro höher sein als ein Jahr zuvor. Das wichtige Bildungspaket für bedürftige Kinder und Jugendliche kommt auf den Weg. Die ohnehin klammen Kommunen werden bei der Alters-Grundsicherung entlastet, und der Mindestlohn wird unter anderem auf die Zeitarbeitsbranche ausgeweitet. Das verringert die Zahl der "Aufstocker" und schafft für Erwerbslose mehr Anreize, einen Job aufzunehmen.
Die Schere zwischen Entscheidern und Experten
Doch auf fachlichen Ratschlag haben die auf sorgsam austarierte Kompromisse bedachten Politiker wieder einmal nicht gehört. Die evangelische Diakonie begrüßt zwar, dass die Betroffenen nun endlich wüssten, woran sie sind - das Ergebnis bleibe aber weit hinter den Erwartungen zurück, so der neue Diakoniechef Johannes Stockmeier. Weniger diplomatisch gibt sich der Paritätische Wohlfahrtsverband, der die Hartz-IV-Einigung als "erbärmlichste Farce" in der deutschen Sozialgeschichte klassifiziert. Die Schere zwischen Entscheidern und Experten ist inzwischen offenbar ähnlich groß wie die zwischen Arm und Reich.
Kritiker sehen das Verhandlungsergebnis zudem als Affront gegenüber dem Bundesverfassungsgericht. Gut möglich, dass die Frage, wie viel Geld für ein menschenwürdiges Leben notwendig ist, bald erneut vor den Karlsruher Richtern liegt. Diese hatten die bisher geltenden Hartz-IV-Sätze vor einem Jahr für grundgesetzwidrig erklärt – eine Ohrfeige für den Gesetzgeber. Ob der Kompromiss von Beck & Böhmer der Verfassung entspricht, wird von vielen bezweifelt. Nichts deute darauf hin, so der evangelische westfälische Präses Buß, dass die Politik das Ziel habe, den Regelsatz in Einklang mit der Verfassung zu bringen.
Einigung gelingt in Wahlkampfzeiten
Wird Karlsruhe künftig zunehmend ins politische Tagesgeschäft gezogen? Und welche Partei, welches "Lager" hat sich in Sachen Hartz IV nun eigentlich durchgesetzt? Das sind müßige Fragen. Zugute zu halten ist den Verhandlungsführern, dass sie mitten in Wahlkampfzeiten zu einer Einigung kamen. Das war nicht selbstverständlich. Ende März werden in Baden-Württenberg und in Rheinland-Pfalz neue Landtage gewählt. Von deren Ausgang dürfte die Zukunft der schwarz-gelben Regierungskoalition in Berlin entscheidend abhängen. Die Nervosität steigt.
Den Hartz-IV-Empfängern sind diese Gesichtspunkte vermutlich egal. Sie haben andere Sorgen. Wichtiger als ein paar Euro mehr wäre ihnen vielleicht sogar, wenn sich das gesellschaftliche Bewusstsein ändern würde: Nur die wenigsten der Betroffenen sind "Faulenzer", die sich auf der sozialen Hängematte ausruhen. Es geht um Armut und Not mitten in Deutschland. Und dieser sogenannte "Rand" wird immer breiter. Fast jeder zehnte Bewohner des Landes ist in der Grundsicherung. 2,5 Millionen Kinder und Jugendliche wachsen unter diesen Bedingungen auf.
Bernd Buchner ist Redakteur bei evangelisch.de und zuständig für das Ressort Kirche + Religion.