Hartz-IV-Empfänger in Deutschland bekommen weiterhin Leistungen nach einem verfassungswidrigen Gesetz. Genau vor einem Jahr hatte das Bundesverfassungsgericht (BVG) entschieden, dass die "Vorschriften des Sozialgesetzbuches II, die die Regelleistung für Erwachsene und Kinder betreffen, nicht den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (…) erfüllen." Das BVG berief sich auf die Menschenwürde und das Sozialstaatsprinzip.
Das Urteil war eine glasklare Rüge für die Politik. Der Gesetzgeber, so die Richter, habe nun "alle existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht, zu bemessen", so das BVG. Das ist dem Gesetzgeber ein Jahr lang nicht gelungen. In der vergangenen Nacht sind die Verhandlungen gescheitert, dabei hätte die Reform zum 1. Januar 2011 in Kraft treten müssen.
Der Vorschlag der Bundesregierung (364 statt bisher 359 Euro als Regelleistung, Bildungspaket für Kinder) ist am Mittwoch vom Vermittlungsausschuss gebilligt worden. Am Freitag wird der Bundesrat darüber abstimmen. Weil der Regierung in der Länderkammer eine Stimme zur Mehrheit fehlt, dürfte Schwarz-Gelb mit dem Vorschlag wohl nicht durchkommen.
Rechtsanwalt: "Ich bin da skeptisch"
Hartz-IV-Empfänger haben die Möglichkeit, gegen ihre Bescheide Widerspruch und - bei Ablehnung - Klage einzureichen. Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat die Betroffenen ausdrücklich aufgefordert, Rechtmittel anzuwenden, denn laut Bundesverfassungsgericht stehen ihnen ja höhere Leistungen zu. Da sich die Bundesregierung weigere, ein verfassungskonformes Gesetz vorzulegen, seien jetzt die Gerichte gefordert, erklärte der Wohlfahrtsverband am Mittwoch in Berlin.
Rechtsanwalt Thomas Heinrichs aus Berlin ist Fachanwalt für Sozialrecht und schätzt die Erfolgsaussichten solcher Klagen nicht besonders hoch ein. Das Bundesverfassungsgericht habe ja gesagt, die Regelsätze seien nicht nachvollziehbar errechnet worden - also müssten sich nun Sozialrichter hinsetzen und rechnen. "Ich bin da skeptisch", sagt Heinrichs. Sollte ein Mandant mit seinem ALG-II-Bescheid in seine Kanzlei kommen, so der Jurist, würde er eine Klage "vielleicht mal probieren". Schwierig sei ein solcher Fall allerdings auch im Hinblick auf die Prozesskostenhilfe, für die man die Erfolgsaussichten der Klage nachweisen müsse.
Richter können nur nach geltendem Recht urteilen
Richter an den Sozialgerichten haben mit den zu erwartenden Klagen ein Problem: Sie können nur das geltende Recht anwenden, das aber gegen die Verfassung verstößt. Das Sozialgericht Bremen hat bereits in einem solchen Fall ein Urteil gesprochen: Ein 45-jähriger Bremer wollte seinen Anspruch auf höhere Leistungen geltend machen und nicht das Gesetzgebungsverfahren abwarten. Die zuständige Richterin hat das in ihrem bundesweit beachteten Urteil abgelehnt, weil sie der Ansicht war, die alte Regelung müsse noch gelten - auch wenn sie nicht verfassungskonform ist. "Solange nicht ein neues Gesetz in der Welt ist, können die Leute im Augenblick nichts fordern", erklärt dazu ihr Kollege André Schlüter, Richter und Pressesprecher am Sozialgericht Bremen.
Thomas Ladage, Referent im Bundessozialgericht in Kassel, sieht das genauso: "Die Gerichte können keine Lösung finden." Auch das Bundesverfassungsgericht werde keinen Regelsatz beschließen. "Sie können nur sagen: Die Höhe des Regelsatzes ist zu gering. Das geht dann wieder zum Bundesverfassungsgericht und wieder zurück in die Politik."
Für die Betroffenen lohnt sich eine Klage wahrscheinlich nicht. "Sie können höchstens ihre Rechte wahren", erklärt Ladage. Selbst wenn eine Klage durch alle Instanzen Erfolg hätte, würde sich das Warten wahrscheinlich nicht lohnen: Ein Jahr pro Instanz - da sei die Politik dann wahrscheinlich doch schneller. Selbst wenn sie jetzt ganz von vorn anfangen muss.