Der Albtraum vom Himmelreich auf Erden

Der Albtraum vom Himmelreich auf Erden
Mit dem Stück "Kristus" hat das Schauspiel Hannover die Geschichte des Jan von Leiden und des berüchtigten Täuferreichs von Münster auf die Bühne gebracht. Die Inszenierung basiert auf dem gleichnamigen, im Jahr 2004 erschienenen Roman von Robert Schneider. Zur Premiere am Wochenende gab es tosenden Applaus.
09.01.2011
Von Michael Grau

Jan hat einen Traum. "Es wird einen Ort geben, wo die Kinder lachen und die Alten hundert Jahre alt werden", vertraut er einem Freund an. "Ein Himmelreich auf Erden. Und ich werde dort herrschen." Es ist die Zeit um 1530, eine Zeit des Aufbruchs, der Reformation - und der Revolution. Aus dem Gottsucher Jan von Leiden wird später der König von Münster, der mit grausamer Hand sein irdisches Himmelreich in der Stadt regiert.

Regisseur Mirko Borscht (39) orientiert sich mit dem Stück "Kristus - Monster of Münster" an einem historischen Vorbild: 1534/35 errichtete die Gemeinschaft der Wiedertäufer in der westfälischen Stadt einen utopischen Gottesstaat, in dem Freiheit und Gleichheit herrschen sollten - eines der bizarrsten Kapitel der Kirchengeschichte. 16 Monate hielten sie durch, bis der Fürstbischof die Stadt einnahm und ihren Anführer Jan von Leiden foltern und hinrichten ließ. Für Borscht ist "Kristus" aber mehr als ein Historienspiel: "Die Sehnsucht nach einer besseren Welt ist ein Phänomen, das urmenschlich ist. Obwohl man die Beispiele des Scheiterns vor Augen hat, versucht man es immer wieder."

Anspielungen auf Missbrauchsskandal

Jan von Leiden stört sich an der doppelzüngigen Kirche seiner Zeit, die den Menschen mit der Aussicht auf Erlösung oder Heilung das Geld abpresst. Dabei spart das Stück auch Anspielungen auf die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche nicht aus. Jan, im weißen Gewand mit Lockenkopf gespielt von Henning Hartmann, will von Beruf "Kristus" werden, wie er in der Schule auf einen Zettel kritzelt.

Der junge Mann ist ein sanfter Eiferer voller Widersprüche. Er kann vom Himmelreich schwärmen und gleich darauf eine Schlägerei anzetteln. Idealistisch, sympathisch und ein wenig naiv prangert er die Wunden der Gesellschaft an, um sogleich neue Wunden zu reißen. In den Wiedertäufern, die nur die Taufe Erwachsener akzeptieren, findet Jan Gleichgesinnte. Die Ziele der Täufer bleiben auf der Bühne ein wenig undeutlich, Borscht inszeniert sie im Gegenlicht mit Schatteneffekten als eine Art obskure Sekte. "Luther ist bei 40 Prozent stehengeblieben", predigen sie. Sie aber wollen hundert Prozent.

Als Jan in Münster zu ihnen stößt, erscheinen die Täufer als fröhliche Hippie-Kommune mit Rock'n Roll-Musik. Ihre Versammlungen sind eine Art Poetry-Slam - jeder darf mal predigen. Doch rasch wird deutlich, dass diese Kommune nur Gleichgesinnte akzeptiert. "Die Scheune des Herrn muss gereinigt werden", propagiert ihr Prediger Mathys (Wolf List) mit gegeltem Haar im Stile eines amerikanischen Fernsehpredigers.

"Zertrümmert die Altäre!"

Bald darauf setzt der Bildersturm ein. "Zerstört die Beichtstühle, zertrümmert die Altäre!" Und auf der Bühne stürzen unter Techno-Klängen aufgehängte Banner mit gotischen Kirchensilhouetten zu Boden. Jan und seine Mitstreiter gruppieren sich wie in dem berühmten Abendmahls-Gemälde von Leonardo da Vinci um einen Tisch und beschließen, das Privateigentum abzuschaffen. "Alles gehört allen." Als einer dagegen protestiert, wird er erwürgt und symbolisch mit roter Farbe übergossen. Es wird noch viel Farbe fließen in diesem Stück.

Nach Mathys Tod übernimmt Jan nach einer flammenden Rede die Herrschaft und lässt sich zum König ausrufen. Im Machtrausch brechen nun alle Dämme. Wegen des Frauenüberschusses führt Jan die Vielweiberei ein - für die Männer ein Freibrief zur Vergewaltigung. Seine Geliebte Else wendet sich schaudernd ab: "Durch Dich wird kein Friede sein in dieser Stadt. Die Kinder lachen nicht, und die Alten dürfen nicht in Frieden sterben."

Am Ende zeigt Borscht seinen Protagonisten im Stile der Renaissance-Malerei als geschundenen Christus mit rotem Gewand, weißem Tuch und Dornenkrone. Doch die Quintessenz des Stückes liegt irgendwo am Anfang verborgen, als ein Lehrer sagt: "Niemand kann Christus werden. Du kannst nur Du selbst werden. Und das ist schon viel."

epd