Wie das Weihnachtswetter die Deutschen ausbremst

Wie das Weihnachtswetter die Deutschen ausbremst
Sowohl in der Wirtschaft als auch im Privatleben sind viele Deutsche permanent unterwegs. Der Mobilitätsforscher Weert Canzler sagt: "Wir erwarten einfach einen zuverlässigen, billigen Verkehr" Jetzt zwingt der unerwartet frühe und anhaltende Wintereinbruch so manchen, die Vorweihnachtszeit langsamer anzugehen.
21.12.2010
Von Anne Kampf

Fußgänger stapfen mit dicken Stiefeln durch 30 Zentimeter hohe Schneehaufen, Autofahrer schlittern mit durchdrehenden Reifen aus Parklücken, der Bus kommt 20 Minuten zu spät, der Flieger wird heute nicht mehr abheben. Hunderte Menschen haben zum Teil mehrere Nächte am Flughafen verbracht, und manche fragen sich, ob sie Weihnachten tatsächlich da verbringen werden, wo sie gern sein möchten. Ist die Bahn zuverlässig? Oder sind wir doch auf der sicheren Seite, wenn wir das Auto nehmen?

Der Winter hat große Teile Deutschlands dieses Jahr ungewöhnlich früh heimgesucht, und längst nicht jeder freut sich über verschneite Felder und Wälder. Was uns in dieser veränderten Welt fehlt, ist schlicht und ergreifend die Gewohnheit, sagt der Mobilitätsforscher Weert Canzler vom Wissenschaftszentrum Berlin (Foto links: Erik-Jan Ouwekaerk).

Schnee und Glatteis sind für Autofahrer deswegen ein Problem, weil sie  - wenn es allzu rutschig wird – umdenken müssen. "Man stellt für einen Moment Hilflosigkeit fest", erklärt Canzler. Verkehr habe den Sinn, im Hintergrund abzulaufen, vor allem das Autofahren: Man fährt jeden Tag routiniert und ohne nachzudenken die gleiche Strecke, "sogar bewusst in den gleichen Stau, Hauptsache, der Ablauf ist bekannt". Jetzt, wenn das Auto unter einem großen Haufen Schnee begraben ist oder die Räder nicht mehr auf der Straße haften, muss man nachdenken. Über den Busfahrplan zum Beispiel. Das will der Autofahrer gerade nicht – deswegen fährt er normalerweise Auto.

Die meisten Menschen fahren nur selten Zug

Ausfälle im Zugfahrplan betreffen laut dem Mobilitätsforscher nur eine verhältnismäßig kleine Gruppe von Menschen. "Es gibt in Deutschland 150 000 bis 200 000 Bahn-Vielfahrer", schätzt Weert Canzler, "und von denen sind viele Multiplikatoren." Zum Beispiel Journalisten, die dann über das Chaos in den Bahnhofshallen, über gefrustete Reisende und überfüllte Züge berichten, "obwohl die Bahndiskussion an großen Teilen der Bevölkerung vorbeigeht."

Die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland sind in der Sprache der Mobilitätsforscher so genannte "Immobile". Menschen, die nicht berufstätig sind, über einen geringen Bildungshintergrund verfügen und im Privatleben begrenzte und überschaubare Beziehungen pflegen. Diese Menschen, so Canzler, nehmen die Diskussion um vereiste Flugzeuge und stecken gebliebene ICEs nur staunend und teilnahmslos in den Medien wahr. Für sie sei das "ein gespenstisches Szenario", mit dem sie persönlich in ihrer Alltagswelt nichts zu tun haben.

"Die Hälfte der Bevölkerung ist seit mehr als zehn Jahren nicht mehr Bahn gefahren", erklärt der Mobilitätsforscher, "Wer jetzt über das Schnee-Problem redet, ist selbst viel unterwegs." Das sind die Leistungsträger, die Menschen, die sowohl im Berufsleben als auch privat hochmobil sind und Netzwerke über weite Distanzen pflegen müssen.

Spedition: Nur im Notfall und nur mit Schneeketten

Der Mobilitätsforscher hat während dieses Wintereinbruchs selbst gespürt, wie anfällig das System ist: Er wollte einen Inlandsflug unternehmen. Nachdem der Flieger zwei Stunden auf dem Rollfeld gewartet hatte, stiegen die ersten Geschäftsleute wieder aus, um zurück ins Büro zu fahren. Ihren Termin würden sie nicht mehr erreichen. Das System der grenzenlosen Mobilität hat eine Grenze erreicht: Bei Schnee funktioniert es einfach nicht, innerhalb eines Tages hin- und her zu fliegen.

Die Siemans AG löst dieses Problem mit modernen Kommunikationsmitteln: "Statt Dienstreisen werden vermehrt Videokonferenzen abgehalten", sagt Unternehmenssprecherin Silke Reh. In der Produktion mache sich das Wetter kaum bemerkbar, denn es gebe genügend Vorrat an Material.

Den Speditionen allerdings macht das Wetter sehr zu schaffen. Bei Schäfer&SIS Interlogistik in Neunkirchen/Siegerland zum Beispiel steht der Betrieb momentan weitgehend still. Es sei einfach zu gefährlich, Vierzigtonner auf die Steigungsstrecken zu schicken, sagt Mitarbeiter Jörg Schlag. Nur im Notfall riskiert die Spedition einzelne Fahrten - und dann nur mit Schneeketten. Die Fahrer haben momentan zangsweise frei, die Kunden zum Glück Verständnis. Sie werden informiert, dass die Ware zwei bis drei Tage später abgeholt oder geliefert werden kann - in der Hoffnung, dass es bis dahin aufhört zu schneien. Auch in der Luftfracht gibt es Verzögerungen, weil Fracht- und Passagiermaschinen zum Teil nicht fliegen können.

Beim Transport- und Logistikdienstleister Dachser in Kempten/Allgäu sagen die Mitarbeiter: "So einen schlimmen Winter wie diesen haben wir noch nie erlebt." In Nordrhein-Westfalen, Luxemburg, Belgien und Frankreich gab es zeitweise Fahrverbote für LKW, und Straßenmeistereien hatten zu wenig Salz und Streufahrzeuge. Kunden mussten vertröstet werden - die Ware kommt später an. Dachser konnte die Situation teilweise durch den Einkauf von mehr Transportleistung auffangen, außerdem wurden die Laster schon am Wochenende beladen. "Wir danken unseren Kollegen, denn wir wissen, was die gerade leisten", sagt Unternehmenssprecher Aljoscha Kertesz.

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"Jeder Routinebruch hat Vorteile"

Im Privatleben dagegen können sich die Menschen nach Ansicht von Mobilitätsforscher Canzler ganz gut mit ein paar Wochen Schnee und Eis arrangieren. Es ist zwar ärgerlich, nicht Auto fahren zu können, Weihnachtsfeiern zu verpassen, den Sportverein sausen zu lassen – doch allein dadurch werde niemand vereinsamen. "Dann telefoniert man eben", empfiehlt der Forscher als pragmatische Lösung. Dass das Leben durch eine eingeschränkte Mobilität langsamer und überschaubarer wird, hält er für gar nicht so schlecht: "Jeder Routinebruch hat Vorteile. Jede Störung hat zur Folge, dass man anfängt nachzudenken und dadurch vielleicht auf etwas Neues kommt."

Außerdem nimmt Weert Canzler während der Schnee-Wetterlage mehr Kommunikation in der Öffentlichkeit wahr: An den Bushaltestellen bilden sich Schicksalsgemeinschaften, die Menschen haben ein gemeinsames Gesprächsthema, alle tauschen sich aus. Auch die Taxifahrer fangen an zu reden, jeder erzählt etwas über seine aktuellen Fortbewegungsmöglichkeiten.

Die Frage, die viele Deutsche momentan am meisten bewegt: Schaffe ich es, zu Weihnachten nach Hause zu fahren? Oder: Kommen meine Eltern und Geschwister zu mir durch? Von Münster nach Frankfurt, von Stuttgart nach Gelsenkirchen, von Berlin an den Bodensee?

Weiße Weihnacht zu Hause?

Die Meteorologen haben sich festgelegt: Weihnachten wird weiß. Frank Böttcher, der Leiter des Hamburger Instituts für Wetter und Klimakommunikation sagte dem epd: "Wir rechnen am 24. Dezember bei bedecktem Himmel in allen Teilen der Republik mit Schneefällen." Östlich der Linie Frankfurt/Oder-Dresden-Nürnberg-Ulm wird mit Sprühregen oder Schneeregen bei Werten bis plus zwei Grad gerechnet. Im Tagesverlauf werde es aber auch hier langsam kälter und nur südöstlich von Regensburg könne es bis zum späten Abend dauern, bis der Schnee bei Werten um null Grad wirklich liegen bleibt.

Im übrigen Bundesgebiet ist am Weihnachtsabend mit Frost und einer geschlossenen Schneedecke zu rechnen. Verbreitet wird es durch überfrierende Nässe aber sehr glatt sein. "Wer die Gastgeber nicht mit dem Braten warten lassen möchte, sollte für die Anreise die doppelte Fahrzeit einplanen", sagte Böttcher. Der Mobilitätsforscher Weert Canzler bleibt beim Ausblick auf Weihnachten gelassen. Seine Prognose: 99,7 Prozent der Deutschen schaffen es Heiligabend nach Hause.

mit Material von epd

Anne Kampf ist Redakteurin bei evangelisch.de und zuständig für die Ressorts Politik und Gesellschaft.