Die Stimmung ist geladen, höchst feindselig. Auf der Anklagebank sitzen der Chef und acht Beschäftigte der Firma Grünenthal, ihnen gegenüber drei Staatsanwälte. Im Mai 1968 beginnt mit dem Contergan-Prozess eines der größten deutschen Strafverfahren. Gut zwei Jahre später, am 18. Dezember 1970, wird das Verfahren eingestellt. Im Gegenzug verpflichtet sich Grünenthal zur Zahlung von 100 Millionen D-Mark plus Zinsen für die missgebildeten Kinder. Die Opfer bewerten das rückblickend als verhängnisvolle Entscheidung.
10.000 Opfer auf der ganzen Welt
Contergan löste einen der größten Arzneimittelskandale aus. Weltweit kamen 10.000 Kinder mit schweren körperlichen Missbildungen zur Welt, davon 5000 in Deutschland. Bei Erwachsenen verursachte Contergan eine Nervenschädigung (Polyneuritis).
Laut einer wissenschaftlichen Untersuchung fragte ein Neurologe 1959 bei Grünenthal an, ob der Contergan-Wirkstoff Thalidomid zu Nervenschädigungen führen kann. Im selben Jahr weist ein Gynäkologe einen Außendienstler von Grünenthal darauf hin, dass er Missbildungen seines Sohnes mit Thalidomid in Verbindung bringt. Im November 1961 nimmt Grünenthal die Präparate aus dem Handel. Fast sieben Jahre später beginnt der Strafprozess gegen die Mitarbeiter.
Hans Helmut Günter (76) war damals junger Staatsanwalt in dem Verfahren. Es habe keine Alternativen zur Einstellung des Prozesses gegeben, sagt er im Wohnzimmer seines Hauses in Aachen - vor sich auf dem Tisch die vergilbte Anklageschrift, Aktenzeichen 4 JS 987 61: Vorwurf der fahrlässigen und vorsätzlichen Körperverletzung sowie fahrlässige Tötung gegen neun Angeklagte aus dem Unternehmen.
Entschädigung längst aufgebraucht
Der Prozess war zäh, ein Ende nicht in Sicht. Fraglich war auch, ob es am Ende überhaupt noch einen verhandlungsfähigen Angeklagten gegeben hätte. Nach und nach waren vier krank geworden - zuletzt saßen nur noch fünf im Gerichtssaal. "Wenn alle Angeklagten ausgeschieden wären, wäre der Prozess geplatzt", erinnert sich Günter. In dieser Phase beantragte Grünenthal die Einstellung des Verfahrens. Die Staatsanwälte handelten mit dem Unternehmen die Konditionen aus. Die Gespräche gingen manchmal bis tief in die Nacht.
Es ging um Geld. "Es war ein zentraler Punkt, wie viel die Kinder bekommen. Bei zehn Millionen Mark hätten wir nie Ja gesagt", erzählt Günter. Bei 100 Millionen plus Zinsen wurde der Deal besiegelt. "100 Millionen waren damals eine Menge Geld." Weitere 100 Millionen kamen vom Bund. "Damals sind wir davon ausgegangen, dass die Kinder eine kürzere Lebenserwartung haben. Heute wissen wir, die werden so alt wie wir", sagt der Jurist. Das Unternehmen schreibt dazu auf seiner Internet-Seite: "Grünenthal zahlte freiwillig eine Summe von 114 Millionen DM in die Stiftung "Hilfswerk für behinderte Kinder" ein."
Das Geld ist längst aufgebraucht. Die Contergan-Stiftung zahlte nach eigenen Angaben bis Ende 2008 rund 460 Millionen Euro aus. Vom Hersteller kam mit den umgerechnet 51 Millionen Euro von damals nur ein Bruchteil. Der Rest sind Steuermittel. Im vergangenen Jahr leistete Grünenthal noch mal eine "Sonderzahlung" über 50 Millionen Euro.
Alle Ansprüche erloschen
"Es wäre wichtig gewesen, wenn es zu einer Verurteilung gekommen wäre", sagt Contergan-Opfer Andreas Meyer und spricht damit vielen Betroffenen aus der Seele. Meyer kämpft seit Jahrzehnten erbittert um Entschädigungen mittlerweile in Milliardenhöhe. Diesen Kampf führt der Mann im Rollstuhl mit Demonstrationen und Boykottaufrufen.
Deutsche Contergan-Opfer dürfen laut Gesetz nicht gegen Grünenthal klagen. Eine Folge aus dem Stiftungsgesetz, das die Zahlung der Contergan-Millionen an die Behinderten regelt. Damit erloschen automatisch alle potenziellen Ansprüche von Opfern gegen die Firma. Meyer spricht von "Generalenteignung".
Auch für Christian Stürmer vom Contergan-Netzwerk ist das der eigentliche Skandal - und nicht die Einstellung des Verfahrens. Wegen dieser gesetzlichen Regelung hat auch nie ein deutsches Gericht über mögliche Schadenersatzansprüche von Contergan-Opfern entschieden. Das Netzwerk hat dagegen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geklagt.