"Wir (bedenken) die Herausforderungen unserer Zeit vom Evangelium her und wollen in unserem Umfeld das Vertrauen auf Gottes weiteren Beistand Schritte auf dem von ihm gewiesenen Weg gehen." Dieser Satz steht nicht in einem kirchlichen Papier, sondern zu Beginn der Selbstdarstellung der "Landesarbeitsgemeinschaft Christinnen und Christen bei Bündnis 90/Die Grünen" in Sachsen.
In der Tat: "Man gilt bei den Grünen nicht mehr als verrückt, wenn man sich mit kirchlichen Themen beschäftigt", stellte vor einiger Zeit Katrin Göring-Eckardt fest, die mit einem Pfarrer verheiratet und Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages ist. Doch die 42-jährige Thüringerin, die in der Zeit der deutsch-deutschen Wende ihr Theologiestudium abbrach und über den Runden Tisch in der untergehenden DDR zu den Grünen fand, ist zugleich Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, Präsidentin des Deutschen Evangelischen Kirchentages Dresden 2011 und Leiterin des Reformprozesses "Kirche der Freiheit" der EKD.
Eine Grüne als "mächtigste Frau" der EKD, die sich zudem noch bestens mit ihrem Stellvertreter im Amt der Vorsitzenden der EKD-Synode, dem ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten Günther Beckstein (CSU) versteht? Für die Protestanten kein Problem mehr und nicht wenige katholische Laien schauen voller Neid auf dieses "grün-schwarze Traumpaar". Auch kein katholischer Oberhirte würde heute mehr wie in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts der damalige Kölner Erzbischof Joseph Kardinal Höffner im Streit um die Abtreibung sagen, das Tischtuch mit den Grünen sei "zerschnitten" und diese Partei nicht wählbar.
"Bewahrung christlicher Werte"
Grüne Politiker wie Winfried Kretschmann, den Demoskopen bereits als künftigen baden-württembergischen Ministerpräsidenten sehen, der Bundestagsabgeordnete Josef Winkler oder seine ehemalige Kollegin Christa Nickels sitzen im Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK), die Deutsche Bischofskonferenz sucht ebenso wie der Rat der EKD das Gespräch mit dem Bundesvorstand der Grünen. Auf Kirchen- und Katholikentagen sind die Grünen vertreten und seit dem Katholikentag 2004 in Ulm laden sie auch - wie die anderen großen Parteien - zu Empfängen ein.
In der breiten Öffentlichkeit spielt die 1984 gegründete Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) der Christinnen und Christen bei den Grünen freilich keine große Rolle. Zu ihrer 25-Jahr-Feier kam der braunschweigische Landesbischof Friedrich Weber. Sie will "von Fall zu Fall christlich fundierte Handlungsorientierungen vermitteln". Sie will sich in den interreligiösen Dialog und in die gesellschaftlichen und politischen Diskussionen einmischen - "wann immer es um die Bewahrung und die sachgemäße Anwendung christlicher Werte geht". Vorsitzende ist neben dem Darmstädter Geschichtsprofessor Friedrich Battenberg die Helmstedter Rechtsanwältin Sybille Mattfeldt-Kloth, die der Synode der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Braunschweig und stellvertretendes Mitglied der EKD-Synode ist.
Konkurrenz zur CDU
Der stellvertretende Landesvorsitzende der CDU Nordrhein-Westfalens, Armin Laschet, räumt ein, dass die Union "in manchen Feldern" um ähnliche Wähler ringt wie die Grünen: "Grüne Hochburgen sind Orte, wo früher die CDU sehr stark war. (…) Das christliche Menschenbild ist der fundamentale Unterschied zwischen uns und ihnen." Doch das lässt sich so pauschal nicht mehr sagen, zumal über die Grünen, die Ende der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts aus vielen unterschiedlichen Strömungen zusammengewachsen sind. Nicht zuletzt waren von Anfang an viele protestantische Christen dabei, darunter die erste grüne Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, die evangelische Theologin Antje Vollmer.
Die Grünen, die inzwischen die magische Mitgliederzahl von 50.000 überschritten haben, sind freilich weder eine christliche noch eine evangelische Partei, obwohl zunehmend Protestanten aus der evangelischen Jugendarbeit den Weg in die grüne Partei finden. Selbst die Vorsitzende der grünen Bundestagsfraktion, Renate Künast, bekannte vor einiger Zeit: "Die evangelische Jugend war für mich in der Jugend wichtig. Sie hat mir ein Wertegerüst gegeben, das ich nicht missen will."
Viele Berührungspunkte
Weltanschaulich sind die Grünen sehr heterogen: Im Berliner Streit um die Einführung eines Wahlpflichtfaches Religion stellten sie sich gegen die Kirchen (mit Ausnahme ihrer Landesarbeitsgemeinschaft Christinnen und Christen, die für "Pro Reli" votierten), verlangen - wie jüngst der nordrhein-westfälische Abgeordnete Hans Christian Markert - die Entfernung eines Kreuzes aus dem Sitzungssaal des Rechtsausschusses (der identisch ist mit dem Sitzungssaal der CDU-Fraktion), haben eine Vorliebe für fernöstliche Religionen, fordern die Gleichstellung des Islam mit den christlichen Kirchen und die Abschaffung angeblicher kirchlicher Vorrechte. Auch viele atheistische Humanisten haben ihren Platz bei den Grünen.
Umgekehrt gibt es viele Berührungspunkte - nicht nur in der Frage der Bewahrung der Schöpfung. In der Frage der Präimplantationsdiagnostik (PID) stehen die Grünen dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Zollitsch, näher als dem Vorsitzenden des Rates der EKD, Präses Nikolaus Schneider, mit dem sich erst jüngst wieder die Spitze der grünen Partei getroffen hat. In der Entwicklungspolitik gibt es wenig Unterschiede zwischen den Grünen und den Kirchen. Gleiches gilt für die Friedensfrage.
"Für einen intensiven Dialog"
Die grüne Bundestagsfraktion stellt im Blick auf die Kirchen fest: "Wir unterstützen die Trennung von Kirche und Staat. Gleichzeitig treten wir für einen intensiven Dialog ein und für gleiche Rechte für alle Religionen. In vielen Fragen haben wir Grüne Kirchen als wertvolle Bündnispartner erlebt. Dazu gehört insbesondere der ökumenische Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Dazu gehört das Eintreten gegen Fremdenfeindlichkeit, für internationale Gerechtigkeit und nicht zuletzt auch das ethische Engagement in Fragen der modernen Gentechnik."
Für den evangelischen Theologen Herbert Falke, aktiv bei den Grünen im nordrhein-westfälischen Höxter, bedeutet Gott zu gehorchen, "dem Auftrag Gottes entsprechend zu handeln. Und der lautet: die Schöpfung bebauen und bewahren, der gequälten Schöpfung Fürsprecher zu sein." Konkret verwirklichen lässt sich dies aus seiner Sicht nur mit den Grünen. Nicht wenige evangelische Christen denken wie er, und ihre Zahl wird immer größer. Das schlägt sich auch im gegenwärtigen demoskopischen Hoch der Grünen von 20 und mehr Prozent nieder.
Obwohl ein grünes Umweltlesebuch von 1989 den Titel "Grün ist die Farbe Gottes" trägt, so ist die evangelische Kirche noch weit davon entfernt, politisch grün zu werden. Aber man kommt sich immer näher. Oder um in der Farbensprache zu bleiben: Violett rückt politisch näher an Grün heran.
K. Rüdiger Durth lebt als Pastor und Journalist in Bonn. 2004 wurde er von Bundespräsident Johannes Rau mit dem Bundesverdienstkreuz I. Klasse ausgezeichnet.