Zwei Tage vor Heiligabend lädt Familie Wein-Blümke in Kilianstädten bei Frankfurt den Wagen voll. Selbst im geräumigen Touran müssen sich Vivian Wein, Wilfried Blümke, Tochter Merle (13) und die Zwillinge Clemens und Imke (11) dann quetschen. Denn Baumschmuck, Ständer und die Geschenke sollen mit zum weihnachtlichen Familientreffen. Mehrere hundert Kilometer legen die fünf dafür jedes Jahr zurück. Mal geht es in ihre niedersächsische Heimatstadt Soltau, in diesem Jahr ins österreichische Schrunz.
Aus Norddeutschland kommen dazu auch Schwestern und Schwäger, Nichten und Neffen, Vivian Weins 80-jährige Mutter und der 90-jährige Vater angereist. "Ganz spießig ist für uns Weihnachten ein Familienfest. Für die Kinder gehört das einfach dazu", sagt die 44-Jährige. "Und für mich irgendwie auch." Mehr als 40 Prozent der Erwachsenen in Deutschland besuchen laut einer Forsa-Umfrage aus dem vergangenen Jahr an Weihnachten Familie, Verwandte und Freunde.
Dabei müssen sie sich besonders am 23. Dezember auf volle Straßen und überfüllte Züge gefasst machen. Der ADAC sagt lebhaften Verkehr und Staus vorher. Die Deutsche Bahn will in den Feiertagen zusätzliche Züge einsetzen. "Weihnachten ist die Hauptreisezeit im Jahr", sagt ein Sprecher und rät zur rechtzeitigen Reservierung. Vor allem die 18- bis 59-Jährigen sind laut Umfrage unterwegs. Zwischen einem und drei Tagen kalkulieren die meisten ein, An- und Abreise inklusive. Die Mehrheit fährt mit dem Auto.
"Viele langweilen sich"
Es ist also durchaus wahrscheinlich, dass der Fahrer nebenan das gleiche Ziel hat, wie es der britische Sänger Chris Rea in seinem Lied "Driving home for Christmas" beschreibt. Eine Idylle der tausend Erinnerungen, wie sie der Song heraufbeschwört, ist allerdings nicht garantiert. "Es ist eine Illusion, dass zum Weihnachtsfest nur Friede und Freude herrscht. Tatsächlich langweilen sich viele, und alte Konflikte kommen hoch", sagt der Familiensoziologe Günter Burkart.
In einer Zeit schwächerer Bindungen und zunehmender Flexibilität wollten sich einige der Heimreisenden ihrer Wurzeln vergewissern, erläutert der Professor von der Leuphana-Universität Lüneburg. Trotz aller moderner Lebensformen sei die Familie noch das Lebensmodell, das die meisten anstrebten. Allerdings seien unter den Akademikern bereits mehr als 30 Prozent kinderlos. "Ich kann mir vorstellen, dass die seltener nach Hause fahren." Andere planten aus purem Pflichtgefühl den Besuch bei Eltern und Schwiegereltern in ihrem Terminkalender ein.
Frauke Finke zog es schon als Studentin an den Feiertagen von Berlin in die heimatliche Kleinstadt zurück, obwohl längst nicht mehr alles vertraut war. Sie erinnert sich an das Treffen mit einem Freund in einer Kneipe. "Als wir den Raum betraten, verstummten plötzlich alle Anwesenden und starrten uns an. In ihren Gesichtern las ich 'Fremde in unserer Stadt' - obwohl wir erst wenige Jahre zuvor weggezogen waren."
Vertraute Rituale
Die 41-Jährige, die heute in Osnabrück lebt, schätzt nach wie vor die Rituale aus ihrem Elternhaus wie Pflaumenkuchen zum Kaffee und den Besuch des nächtlichen Gottesdienstes. Ehemann Gerd sieht dagegen in Weihnachten ein kommerzialisiertes Fest voller überfrachteter Emotionen und meidet deshalb Familientreffen. "Die sind besonders stressig. Es türmen sich Geschenke, und alle müssen sich liebhaben."
So ist der Konflikt wieder einmal programmiert. Mutter, Schwägerin und der kleine Neffe hoffen auf den Besuch von Frauke Finke. Ihr Mann wünscht sich ruhige Tage zu zweit. Ausdiskutiert sind die Pläne noch nicht, sagt sie. "Zusammengefasst: Denke ich an Weihnachten, bekomme ich Bauchschmerzen. Wie fast jedes Jahr."
Die Großfamilie Wein hat in Österreich gleich mehrere Ferienhäuser für das Familientreffen gemietet. So hat jeder mal Raum für sich. Mit Skifahren oder Spielabenden steht Abwechslung auf dem Programm, sagt Vivian Wein. "Es ist manchmal ein bisschen anstrengend, aber es macht immer Spaß."