Die fünf Cousins stürzen sich, Pappschilder in der einen, Schwerter aus Schaumstoff in der anderen Hand, mit furchterregendem Gebrüll auf Onkel Max. Sie schlagen auf ihn ein. Aber Onkel Max ist heute nicht Onkel Max, sondern spielt einen syrischen Soldaten im Jahr 165 vor Christus - und gibt röchelnd seinen Geist auf. König Antiochus im wallenden Gewand, dargestellt von Großvater Edwin, liegt bereits darnieder. "Victory for the Jews", freut sich Großmutter Nava und reicht zum Abschluss des Stücks jedem der schwitzenden Schauspieler ein Glas Wasser. Und alle wissen, was gemeint ist.
Das historische Ereignis, das fast 2.200 Jahre zurückliegt, wird bei den Friedlands im Örtchen Livingston im Bundesstaat New Jersey jeden Dezember im Wohnzimmer nachgestellt. "Tradition in der mittlerweile dritten Generation", sagt Edwin Friedland, während er sich lächelnd aufrappelt. Alle sind gekommen - die vier Töchter und Söhne mit ihren Familien, einem Dutzend Kinder, und ein paar Nachbarn. Die Jüngsten, gerade dem Windelalter entwachsen, werden jedes Jahr eingespannt und spielen begeistert die siegreichen jüdischen Makkabäer.
Das Öl reichte für acht Tage
Es geht um die Nachstellung des Sieges des Judas Makkabäus und seiner vier Brüder über die syrische Seleukidendynastie unter König Antiochus IV. Der hatte der jüdischen Minderheit in Judäa die Religionsausübung, einschließlich des Thorastudiums, verboten und versucht, ihr das Hellenentum aufzuzwingen. Doch die Juden widersetzten sich gewaltsam - und mit Erfolg. Dies ist die Vorgeschichte von Chanukka. Die Symbole des Festes - Öl, Licht, siebenarmiger Leuchter - gehen auf die Ereignisse nach dem Sieg über die Unterdrücker zurück. Denn danach reinigten die Juden ihren Tempel in Jerusalem und weihten ihn neu ein. Dabei geschah das Ölwunder. Sie hatten nur für einen Tag Öl für den Tempelleuchter - aber es machte acht Tage lang Licht.
Das wundersame Öl ist deshalb das zentrale Symbol beim Chanukkafest. Der Leuchter besteht aus acht Erhebungen oder Armen, ein neunter namens "Schamasch" dient zum Entzünden. Jeden Abend bei Sonnenuntergang wird ein neues Licht entzündet. Die Regeln zum Entzünden sind relativ strikt: Obwohl im Lauf der Chanukkawoche jeden Abend ein weiteres Licht dazukommt, und zwar von rechts nach links, findet das Entzünden von links nach rechts statt. Denn der Leuchter brennt nicht die ganze Woche. Jeden Abend nach Sonnenuntergang beginnt die Prozedur von Neuem, mit jeweils einem weiteren Licht.
Geschichte eines unterdrückten Volkes
Bei den Friedlands geht es nicht so streng zu. Die Familie rechnet sich zur Hälfte - einschließlich der Großeltern - dem Reformjudentum zu. Die andere Hälfte ist nicht einmal Mitglied in einer Synagoge. Die älteren Kinder gehen auf eine säkulare Sonntagsschule. "Gott kommt dabei nicht vor, und das ist gut so", erklärt die Erzieherin Beth Wish, Mutter zweier Kinder. "Wir verstehen unser Judentum als kulturell". Chanukka ist für sie die Geschichte eines unterdrückten Volks gegen Fremdherrschaft. In diesem Sinne sieht Wish auch den Nahostkonflikt. Die Staatsgründung Israels gegen die britische Protektoratsmacht sei "geschichtlich gesehen fortschrittlich" gewesen. Ebenso fortschrittlich sei "der bewaffnete Widerstand der Palästinenser" gegen die israelische Besatzungsmacht.
Die Großeltern sehen das anders. Sie verstehen sich als Zionisten. Aber Politik und der Streit darüber spielen an Chanukka wie an anderen jüdischen Festtagen für die Friedlands kaum eine Rolle. Im Mittelpunkt stehen heute die Enkelkinder und ihre selbst gebauten Menoras - einfache, aus Bauklätzen zusammengeklebte Konstukte, die mit Silberfolien versehen sind, damit die brennenden Kerzen keinen Schaden anrichten. Die Eltern zünden die Kerzen selbst an.
Zum Glück sind die Kleinen abgelenkt durch die "Dreidel", Kreisel mit den hebräischen Buchstaben Nun, Gimel, He und Schin. Sie stehen als Abkürzung für den hebräischen Satz "Da unten hat sich ein großes Wunder ereignet". Aber die Erklärung klingt in den Ohren der Kinder langweilig. Ihr Ziel ist ist, die Dreidels möglichst lange auf dem Wohnzimmertisch tanzen zu lassen. Wessen Dreidel am längsten tanzt, hat gewonnen.
Kartoffelpuffer mit Apfelmus
Jedes jüdische Fest ist mit symbolischem Essen verknüpft. So auch an Chanukka. Das Essen muss an diesen Tagen an Öl erinnern. Während in Israel in Öl gebackene süße Krapfen gereicht werden, sind es in den USA vor allem "latkes", in Öl gebackene Kartoffelpuffer mit Apfelmus. Der Brauch ist vermutlich in Osteuropa entstanden und wurde von dort von Einwanderern in die USA mitgebracht. Was beim Verzehr wiederum das "storytelling" ermuntert. Es gibt in den USA keine jüdische Familie, die nicht aus osteuropäischen "stetln" eingewanderte Vorfahren hätte. Bei den Friedlands erinnert sich Großmutter Nava an ihre eigene Mutter, die aus dem zaristischen Russland in die USA kam und dort, auf der Lower East Side von Manhattan, völlig verarmt neun Kinder großzog.
Großvater Max verteilt unterdessen Käsestücke aus einem geflochtenen Korb an die Erwachsenen. Den Kindern wird die dahinterliegende Geschichte allerdings solange verheimlicht, bis sie sie verdauen können. Denn die jüdische Heldin Judith hatte den syrischen General Holofernes bezirzt - mit sexuellen Versprechungen, mit Wein und Köse - bis der Militärherrscher besinnungslos zusammenbrach und sie ihn köpfen konnte.
Max Böhnel arbeitet als freier Journalist in New York.