"Du Jude" als Schimpfwort in deutschen Schulen

"Du Jude" als Schimpfwort in deutschen Schulen
Unter Jugendlichen in Deutschland gibt es offenbar antisemitische Einstellungen. Das belegt eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Auch Lehrer berichten von Provokationen wie "du Jude" oder dem Hitlergruß im Klassenzimmer. Das American Jewish Committee in Berlin versucht, mit Schülern demokratische Umgangsformen einzuüben.
23.11.2010
Von Thomas Klatt

Die letzte repräsentative Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung im Jahr 2006 gibt beim Thema Judenfeindschaft in der deutschen Gesellschaft keine Entwarnung. So haben knapp 18 % der Befragten die Ansicht bejaht, auch heute sei der Einfluss der Juden zu groß. Und 16,3 % vertraten die Ansicht, die Juden hätten etwas Besonderes an sich und passten daher nicht recht in die deutsche Gesellschaft.

Noch dramatischer sehen die Ergebnisse an deutschen Schulen aus. "Wir rechnen mit antisemitischen Einstellungen an Haupt- und Realschulen von rund 30 %, an Gymnasien immerhin noch mit 13 %", sagt der Soziologe Wolfram Stender aus Hannover, der mit "Konstellationen des Antisemitismus" eine der derzeit aktuellsten qualitativen Studien zum Thema vorgelegt hat. "Der Antisemitismus wird in den letzten Jahren zunehmend offener artikuliert, ohne dass dem von der Mehrheit der Schülerschaft widersprochen wird", sagt Stender.

Das sei kein Wunder, meint der israelische Historiker Robert Wistrich von der Jerusalemer Hebrew University, denn mittlerweile habe sich in der islamischen Welt eine regelrechte Hasskultur gegen Israel und alles Jüdische entwickelt, die multimedial etwa über arabische Satelliten-Fernsehkanäle allabendlich auch in deutsche Wohnzimmer importiert würde. Dem stimmt auch der Kölner TV-Journalist Ahmet Senyurt zu, der seit Jahren in der islamistischen Szene recherchiert.

Iranische Propaganda im Fernsehen

So wurde die iranische Propaganda-Serie "Sarahs Augen", in der Juden kleine muslimische Kinder töten, um an ihre Organe zu gelangen, zur besten Sendezeit selbst im türkischen Fernsehen ausgestrahlt. "Sie können die DVDs am Kottbusser Damm in einem türkischen Buchladen ohne Probleme kaufen. Das Ding liegt in der Auslage im Schaufenster und es gibt null Unrechtsbewußtsein bei den Händlern", ereifert sich Senyurt. Für ihn sind solche antisemitischen Sendungen keine Randerscheinungen, sondern Bestseller und mainstream in der arabischen und türkischen Community. Er sieht darin ein wachsendes Konfliktpotential.

Der Soziologe Wolfram Stender hält dies aber für einen übertriebenen Alarmismus. Nach seinen Recherchen sehen gerade einmal rund 17 % der Migrantenkinder in Deutschland arabische Sender. "Viele von ihnen sehen sich zudem als Deurabier, also deutsche Araber. Die meisten verstehen sowieso kein Arabisch mehr. Also von diesen islamistischen Sendern aus dem Iran oder dem Libanon direkt auf den Antisemitismus unter Jugendlichen zu schließen, halte ich für eine zu simple Kausal-Kette", erklärt Stender.

Überraschend sei für ihn zudem gewesen, dass sich ein erhöhter Anteil antisemitischen Denkens gerade auch unter Spät-Aussiedlern aus der ehemaligen Sowjetunion findet. "Das wurde sozusagen aus der UdSSR über Generationen in den Familien tradiert", vermutet Stender. Und man dürfe nicht vergessen, dass es auch bei den "Herkunftsdeutschen" nach wie vor einen antisemitischen Bodensatz gebe.

Viele arabische und türkische Jugendliche würden sich zwar mit dem Nahost-Konflikt identifizieren, ohne aber dessen Hintergründe zu kennen. "Es ist wichtig, dies pädagogisch aufzugreifen. Lehrer müssen mit ihren Schülern im Gespräch bleiben und dürfen diese nicht gleich als Antisemiten abstempeln. Allein schon die fälschliche Pauschalisierung von Israel mit allen Juden ist ein Unterrichtsthema für sich", rät Stender.

"Lehrer trauen sich nicht an aktuellen Konflikt"

Dem stimmt auch sein Freiburger Kollege Albert Scherr zu, der zusammen mit Barbara Schäuble vor zwei Jahren für die Amadeu Antonio Stiftung in der Broschüre "Ich habe nichts gegen Juden, aber…" pädagogische Handlungsanweisungen gegen Antisemitismus zusammengetragen hat. "Nicht hinter jedem Spruch 'du Jude' steckt gleich ein fundierter Antisemitismus, sondern eher der Stereotyp, dass 'Jude' als Synonym für Opfer und Schwächling benutzt wird", so Scherr.

Jeder Jugendliche wisse, dass hinter dem Wort 'Jude' immer auch ein Provokationswert stecke, also reize diese Vokabel zu häufigem Gebrauch. "Dann besteht die Gefahr der moralischen Übercodierung und Sanktionierung durch die Lehrer, was wiederum eine Verschlossenheit der Schüler bringt. Schulen brauchen Orte für einen freien und angstfreien Dialog. Andererseits haben wir ein Riesen-Qualifikationsproblem unter der Lehrerschaft. Ich habe den Verdacht, dass die meisten Pädagogen meinen, dass mit der Behandlung der NS-Vergangenheit das Thema Juden ausreichend behandelt wird. Die meisten Lehrer trauen sich an den aktuellen Israel-Palästina-Konflikt gar nicht heran", bemängelt Scherr.

Beim Thema Antisemitismus könne man daher nicht früh genug ansetzen, meint Rouven Sperling vom American Jewish Committee in Berlin. Seine Organisation bemüht sich darum, das Demokratielernmodell "Hands for kids" schon in Grundschulen einzuführen. In den USA existiert dieses Projekt schon seit Anfang der 80er Jahre. Ursprung waren die Rassenunruhen in Los Angeles, auf die das American Jewish Committee mit einem pädagogischen Programm an den Schulen reagierte.

Demokratieprojekt in der Schule

"Es orientiert sich an den Grundwerten der Demokratie", erklärt Rouven Sperling, der in Berlin dieses Projekt für Deutschland koordiniert. Noch unter der Bundesregierung Schröder sei der Wunsch an die jüdische Organisation herangetragen worden, dass man auch präventiv gegen Rechtsextremismus vorgehen möge. Eine der ersten Pilotschulen ist seit drei Jahren die Reinhardswald-Grundschule in Berlin-Kreuzberg.

Rund 20 Schüler der fünften Klasse sitzen im Kreis. Zu Beginn wird unter ihnen ein Moderator, ein Protokollant und ein Wächter über die Redezeit bestimmt, damit die Diskussion in ruhigen und geordneten Bahnen verläuft. Nur noch selten muss die Klassenlehrerin eingreifen. Man merkt, dass alle im Sprechen aber auch Hören auf den anderen geübt sind. Auffallend diszipliniert und konzentriert werden die Probleme thematisiert, die die Kinder selbst anbringen: Wie soll das nächste Schulfest gestaltet werden, wie hält man die Toiletten sauber, aber auch, was tun bei Beleidigungen und Konflikten?

Es geht um die Einübung demokratischer Gesprächskultur, etwa auch durch die Teilnahme an schulübergreifenden Kinderkonferenzen. Zusammen mit Pädagogen in Berlin und Brandenburg wurden in den letzten Jahren verschiedene Lernbausteine entwickelt, die in jedem Unterrichtsfach eingesetzt werden können. Schüler und Lehrer verstehen sich als Lerngemeinschaft auf Gegenseitigkeit.

"Kein anderes Kind wird beschimpft"

Statt Kinder zu loben und in ihrer Persönlichkeit zu stärken würden Schüler immer noch viel zu sehr allein nach ihren Fehlern beurteilt, meint Regina Todt, pädagogische Koordinatorin an der Kreuzberger Reinhardswald-Grundschule. Sie erläutert einige der neuen Unterrichtsgrundsätze: "Meine Klasse ist für alle Kinder ein sicherer Ort. Wir dürfen im Unterricht unsere eigenen Fragen und Themen bearbeiten. Alle Kinder in meiner Klasse werden häufig gelobt. Niemand macht sich lustig darüber, wenn Kinder andere Kleidung tragen oder anders aussehen. Wir treten dafür ein, dass kein anderes Kind beschimpft oder schlecht behandelt wird. Alle Kinder können ohne Angst sagen, was sie denken. Klassenregeln werden gemeinsam gemacht."

Es sind Regeln, die in jeder Stunde gelten und nicht etwa nur in einem separaten Ethik- und Wertefach. Regina Todt weiß, dass hinter den meisten Provokationen der Schüler vor allem das Signal steht, dass sie gehört und ernst genommen werden wollen. "Das Schlimmste habe ich mal in meiner alten Schule erlebt. Als ich in meine Klasse kam, saßen die Kinder alle da und haben 'Heil Hitler' gemacht", erinnert sie sich. Da sei es wichtig, mit den Schülern ins Gespräch zu kommen und die Hintergründe zu erfragen. Vorher war eine Kollegin in der Klasse gewesen, die unbeliebt war. Diese hatte die ganze Tafel mit der Geschichte des Nationalsozialismus vollgeschrieben und die Schüler gezwungen, alles zur Strafe abzuschreiben. "Damit hat sie genau die gegenteilige Reaktion erreicht. Und als Ventil kam dann das bei mir heraus", berichtet die Lehrerin.

Bei einige Schülern festes Weltbild der Eltern

Allerdings gebe es bei nicht wenigen Schülern durchaus ein festgefügtes antijüdisches und rassistisches Weltbild, das diese nicht selten aus dem Elternhaus mitbrächten. Daher müsse man pädagogisch so früh wie möglich dagegen angehen. "Wir merken bei antisemitischen Klischees, dass man ab einem gewissen Punkt die Schüler nicht mehr erreichen kann. Wenn wir die Kinder möglichst früh soweit kriegen, dass sie ihre eigene Identität erkennen und die Identität der anderen anerkennen, dann sind sie nicht mehr so anfällig für diese Klischees und Stereotype, die im Antisemitismus vorgebracht werden", erläutert Rouven Sperling.

Er hält das Programm des American Jewish Committee daher für eine gute Form der Antisemitismus-Prophylaxe. Nun soll das jüdische Demokratielernmodell bundesweit in fast allen anderen Bundesländern zum Einsatz kommen. Denn die anfängliche Mehrarbeit für die Lehrer im Einüben demokratischer Strukturen wirke sich letztlich für alle Beteiligten positiv aus. "Die Erfahrungswerte zeigen, dass die Klasse viel einfacher zu handhaben ist, dass weniger Konflikte auftauchen und dass Konflikte schon im Keim besprochen werden können. Es ist für viele Lehrer leider immer noch ein Problem, dass man zu Beginn des Programms ein bis zwei Stunden zusätzlich investiert. Aber am Ende bekommt man mehr heraus", ist Rouven Sperling überzeugt.


Thomas Klatt ist Theologe und freier Journalist in Berlin.