Wikileaks-Gründer: "Kriegsverbrechen im Irak enthüllt"

Wikileaks-Gründer: "Kriegsverbrechen im Irak enthüllt"
Die Geschichte des Irakkriegs muss nicht völlig neu geschrieben werden. Aber die Enthüllung 400 000 geheimer Akten bringt schlimmste Grausamkeiten ans Licht und nennt Opfer und Täter. US-Soldaten schauten meist weg, wenn Iraker einander quälten.

109.000 Tote, davon weit mehr als 60.000 Zivilisten, 15.000 bisher unbekannte Opfer: Die Internetplattform Wikileaks macht bisher geheime Akten der US-Armee öffentlich. Allein zwischen 2004 und 2009 zeugen die Dokumente von einem unbekannten Maß an Gewalt, Terror und Leid. Wikileaks überließ die Unterlagen zuvor Medien rund um den Globus, darunter auch dem Nachrichtenmagazin "Spiegel", der "New York Times" und der britischen Zeitung "Guardian".

Wikileaks-Gründer Julian Assange stellte sich am Samstag in London der Presse und rechtfertigte die beispiellose Bloßstellung der amerikanischen Streitkräfte. Die Papiere seien klare Beweise für Kriegsverbrechen, sagte er. Mit Blick auf die empörten Regierungen in Washington und London sagte Assange, die Dokumente seien redaktionell so bearbeitet worden, dass niemand gefährdet werde.

Wikileaks hatte bereits im Juli 90.000 geheime Dokumente zum Afghanistan-Krieg öffentlich gemacht. "Wir haben keine Berichte darüber, dass irgendjemand aufgrund der Veröffentlichungen verletzt wurde", sagte Assange.

Entführungen, Hinrichtungen und Folter an der Tagesordnung

Der Irak-Krieg begann im März 2003 mit der Invasion der USA, Großbritanniens und verbündeter Staaten. Deutschland, Frankreich und Russland stellten sich gegen die sogenannte Koalition der Willigen. Der Feldzug war nicht durch den UN-Sicherheitsrat abgesegnet. US-Präsident Barack Obama erklärte den Krieg am 31. August 2010 für offiziell beendet.

[listbox:title=Die großen Medienberichte[Der Spiegel##The Guardian##The New York Times]]

US-Außenministerin Hillary Clinton reagierte wütend auf die Enthüllungen. Die nationale Sicherheit der USA und die ihrer Verbündeten sei bedroht. Auch das Verteidigungsministerium in Washington war außer sich: "Indem solch sensible Dokumente zugänglich gemacht werden, setzt Wikileaks weiter das Leben unserer Soldaten, unserer Verbündeten und von Irakern und Afghanen aufs Spiel, die für uns arbeiten".

Wikileaks stellte nach eigenen Angaben 391.832 geheime Berichte der US-Streitkräfte ins Netz. Anhand abertausender Bedrohungsanalysen, Angriffsberichte und Verhaftungsprotokolle lasse sich sehr genau rekonstruieren, "wie sich der islamische Bruderkampf zwischen Schiiten und Sunniten entfaltet hat", schrieb der "Spiegel". Die irakische Gesellschaft sei durch den Krieg brutalisiert worden. Entführungen, Hinrichtungen und Folter von Gefangenen seien an der Tagesordnung gewesen.

Die Vorstellungskraft als einzige Grenze der Gräuel

Der Mitbegründer der Menschenrechtsorganisation Iraq Body Count, John Sloboda, der gemeinsam mit Assange in London auftrat, sagte, ein großer Teil der Daten stamme aus Berichten von US-Soldaten: "Es ist gut, dass es die Daten gibt, aber es ist schlecht, dass sie geheim gehalten wurden." Die beschriebenen Folterungen und Hinrichtungen seien von den Alliierten nicht verfolgt worden, sagte Sloboda. Er gab die Gesamtzahl der Toten im Irak - anders als Wikileaks selbst - mit 150.000 an - davon vier Fünftel Zivilisten.

Die Dokumente enthüllen, dass im Irak mindestens 15.000 Zivilisten mehr getötet wurden als bisher bekannt - oft durch Folter. Wikileaks zitierte Augenzeugen mit den Worten: "Die einzigen Grenzen, die es gab, waren die Grenzen der Vorstellungskraft." In der Mehrzahl der Fälle gehe es um Taten von Irakern an Irakern.

Die "New York Times" schrieb, dass Häftlinge geschlagen, versengt und ausgepeitscht wurden, sei nicht die Ausnahme gewesen. Einige der Folterungen seien von Amerikanern untersucht, die meisten aber ignoriert worden - "mit einem institutionellen Schulterzucken: Soldaten erstatteten Bericht und baten die Iraker, eine Untersuchung einzuleiten".

Dem widersprach ein Pentagon-Sprecher. US-Soldaten seien stets im Einklang mit dem Gesetz und der internationalen Praxis gewesen: Begingen Iraker die Tat, seien die irakischen Behörden für die Ermittlungen zuständig.

Irakische Regierung: "PR-Kampagne" politischer Gegner

Die "New York Times" spricht von einem "beängstigenden Porträt der Gewalt". In einem Fall verdächtigten US-Soldaten irakische Offiziere, einem Gefangenen die Finger abgeschnitten und ihn anschließend mit Säure verätzt zu haben. In einem anderen Bericht ist die Rede von einem irakischen Polizeichef, der eine Anklage gegen seine Beamten mit der Begründung ablehnte, der Gefangene zeige noch keine Wundmale.

Im Irak wie auch in Afghanistan handele es sich um "moderne, westliche Kriege", sagte Assange. Die Wahrheit bleibe auf der Strecke, "lange bevor der Krieg beginnt und lange nach seinem Ende". Assange kündigte weitere Enthüllungen seiner Plattform an, obwohl die US-Regierung unter Präsident Barack Obama aus seiner Sicht daran arbeite, den Handlungsspielraum mit neuen Gesetzen weiter einzuengen. "Wir machen weiter", sagte Assange.

Die irakische Regierung tat die Veröffentlichung als PR-Kampagne politischer Gegner ab. Die Dokumente enthielten "keinen einzigen Beweis dafür, dass sich die irakische Regierung oder Ministerpräsident Nuri al-Maliki persönlich unpatriotisch verhalten haben", ließ die Regierung in Bagdad erklären. Die Dokumente der US-Armee belegen, dass auch Al-Maliki unterstellte Einheiten an Misshandlungen beteiligt waren.

dpa