Vergessene Minderheit: Evangelische Deutsche im Banat

Vergessene Minderheit: Evangelische Deutsche im Banat
Wenn von deutschen Gemeinden in Rumänien die Rede ist, denkt jeder zuerst an die traditionsreichen evangelischen Siebenbürger Sachsen und die katholischen Banater Schwaben. Kaum jemand weiß, dass es im Banat auch deutsche Protestanten gibt.
18.08.2010
Von Jürgen Henkel

Manchmal weiß Walter Sinn aus Semlak im Banat selbst nicht mehr so genau, was er ist: Pfarrer oder Fahrer. Wenn der 50-jährige Pfarrer der Evangelischen Kirche Augsburgischen Bekenntnisses in Rumänien zu seinen Gemeinden fährt, um dort Gottesdienste zu halten, dann kommen schon einmal 380 Kilometer und drei Gottesdienste an einem Sonntag zusammen. Der engagierte Seelsorger betreut rund 200 evangelische Deutsche im Banat, jener Region, in deren Metropole Temeswar die Revolution gegen den rumänischen Diktator Ceau?escu 1989 ihren Ausgang nahm.

Gemeinde ist ein Flickenteppich

Was sich auf den ersten Blick wie eine traumhafte Zahl an Seelen pro Pfarrer anhört, erweist sich bei näherem Hinsehen als Flickenteppich. Die Gemeinden erstrecken sich von Semlak an der rumänisch-ungarischen Grenze aus über das halbe Banat. Dazu gehören die Orte Engelsbrunn, Liebling, Birda, Klopodia und Kleinschemlak. Die anderen Gemeinden im Banater Bergland betreut Amtsbruder Egon Wonner von Reschitz aus. Zum Vergleich: die Orthodoxe Kirche hat in diesem Gebiet zwei Bistümer und ein Erzbistum…

Auch in diesen Gemeinden hat die Geschichte des 20. Jahrhunderts ihre Spuren hinterlassen. Lebten 1940 noch über 4.000 Gemeindeglieder allein in der Gemeinde Liebling, so flohen im September 1944 binnen weniger Stunden über 2.000 Deutsche vor der anrückenden Roten Armee nach Deutschland. Die Lebensbedingungen der Diktatur unter Ceau?escu führten dazu, dass ab den 70er Jahren auch noch die restlichen Gemeindeglieder fast vollständig ausgewandert sind. Nach einem Geheimabkommen des Diktators mit Bundeskanzler Schmidt zahlte die Bundesregierung dem Regime ein Kopfgeld von 8.000 Mark pro Auswanderer. Die Freiheit nach 1989 nutzten viele ebenfalls zur Auswanderung. Heute zählt die Gemeinde 30 Seelen.

Endzeit in Engelsbrunn

Seit 1985 ist Pfarrer Walter Sinn nun in Semlak, einem gemütlichen Ort mit 4.000 Einwohnern. Gab es 1940 dort 1483 Gemeindeglieder, so waren es 1985 nur noch 537. Davon wanderten allein 1990 und 1991 rund 300 aus. Heute hat der Pfarrer 120 Seelen im Ort zu betreuen, rund 80 in den anderen Gemeinden. Wobei die Situation nicht überall so endzeitlich ist wie in Engelsbrunn, wo mit Elisabeth Müller und Maria Krumbacher gerade noch zwei alte Frauen leben, beide weit über 70 Jahre alt.

Bis zur Wende gab es immer vier bis sechs evangelische Pfarrer im Banat. Die meisten sind ebenfalls ausgewandert, sehr zum Kummer der Gemeindeglieder. Pfarrer Sinn (Foto) hat sich bewusst zum Bleiben entschlossen und dient seinen Gemeinden hier zu einem Bruchteil des Gehalts, das er heute als Pfarrer oder mit einer anderen Arbeit in Deutschland verdienen würde.

"Ich muss hier als Seelsorger die Stellung halten und fühle mich verpflichtet, dieses Amt auszuüben, solange es noch geht", sagt er dazu. Die verbliebenen Deutschen stört es durchaus, dass sie von manchen Ausgewanderten doppeldeutig als "die Zurückgebliebenen" tituliert werden und sie ihr Bleiben rechtfertigen müssen.

Das Gemeindeleben ist völlig anders geprägt als in Deutschland. Die Gemeinden sind massiv überaltert. Es gibt kaum Kinder und Jugendliche, der Pfarrer hält mangels „Kundschaft“ keinen Religions- und Konfirmandenunterricht. Alle zwei oder drei Jahre gibt es eine Taufe oder Trauung, dann meist schon aus Mischehen. Neben den Evangelischen leben Orthodoxe, Katholiken und Reformierte vor Ort, die Beziehungen der Kirchen untereinander sind gut. Bei Trauerfällen wird der Tote im Haus aufgebahrt und drei Tage Totenwache gehalten. Leichen- und Hochzeitszüge führen bis heute durch das Dorf. Das ist besonders anstrengend im Sommerhalbjahr: zwischen April und September häufen sich Dürreperioden mit 38 bis 43 Grad: im Garten des Pfarrhauses blühen Bambusstauden – und der schwarze Talar ist schweißtreibend.

Der Pfarrer ist Mädchen für alles

Über Arbeitsmangel braucht sich der Pfarrer trotz der niedrigen Seelenzahlen nicht zu beklagen. Er ist nicht nur Prediger, Seelsorger und Fahrer, sondern auch Handwerker und "Mädchen für alles", denn die finanzielle Lage der Gemeinden, die mit niedrigsten Kirchenbeiträgen zurechtkommen müssen, erlaubt es nicht, immer professionelle Firmen zu beauftragen. Auch kommen Gemeindeglieder zu ihm, um sich im Umgang mit Behörden beraten zu lassen.

Walter Sinn sieht seine Rolle nicht als kirchlicher Konkursverwalter: "Noch leben die Gemeinden wie ein heiliger Rest und wir müssen die Kirchen noch nicht zusperren." Schmunzelnd verweist er auf Engelsbrunn: "Dort habe ich meist 100 Prozent Gottesdienstbesucher, denn beide Frauen kommen zum Gottesdienst." Und es werden sogar Kirchen renoviert, auch mit finanzieller Hilfe der ausgewanderten Gemeindeglieder wie etwa in Birda. Hunderte ehemaliger Gemeindeglieder kamen 2007 zur Wiederweihe ihrer alten Kirche, viele in den Trachten des Dorfes.

Die Renovierung der Kirchen trotz des Niedergangs der Gemeinden hat für Pfarrer Sinn auch eine kulturhistorische Bedeutung: "Die Kirchen sind ein Kulturgut, das nicht zugrunde gehen darf. Wir haben die Aufgabe, diese Kulturgüter aufrechtzuerhalten und zu pflegen, so lange es geht. Sie sind ein Beweis der Existenz der Deutschen in diesem Land. Das wird später auch der einzige Beweis bleiben: Häuser werden umgestaltet, die Kirchen bleiben so stehen", sagt er.

Täglicher Überlebenskampf

Für Pfarrer Sinn und seine Gemeindeglieder, darunter viele Rentner mit sehr niedrigen Renten aus der kollektiven Landwirtschaft, ist das Leben heute in Rumänien ein Kampf ums tägliche Überleben. Daran hat auch der EU-Beitritt des Landes 2007 nichts geändert. Einen Kampf führt auch der Geistliche um die Rückgabe von enteigneten Gebäuden und Grund gegen korrupte Lokalbehörden.

Die Bürgermeisterin von Semlak, Letitia Stoian, verhindert mit allen Mitteln die korrekte Rückgabe, die den Gemeinden dringend benötigte finanzielle Einkünfte bringen würden. Sie missachtet sogar entsprechende Gerichtsbeschlüsse und deklariert Kircheneigentum kurzerhand zu "öffentlichem Eigentum". Jetzt ermittelt die rumänische Antikorruptionsbehörde DNA und der kämpferische Pfarrer hat sogar Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg eingereicht. "Unsere Bürgermeisterin ist kommunistischer als Ceau?escu es war", schimpft er.

Mit Walter Sinn haben die Gemeinden, die auf Migrationsbewegungen im 18. Jahrhundert zurückgehen, einen engagierten Geistlichen, der sich auch noch als Hobbyhistoriker betätigen muss, um die Geschichte der Gemeinden für die Nachwelt zu dokumentieren. Diese gehörten bis zur Vereinigung Siebenbürgens und des Banats mit Rumänien 1918 zu ungarischen Bistümern, 1923 kamen sie zur Evangelischen Kirche der Siebenbürger Sachsen, die ihren Sitz in Hermannstadt hat. Nach der Auflösung des Banater Bezirks in den 70er Jahren gehören die Gemeinden heute zum Dekanat ("Kirchenbezirk") Mühlbach. Wenn Pfarrer Sinn zur monatlichen Pfarrkonferenz dorthin aufbricht, wird er wieder vom Pfarrer zum Fahrer: die Strecke misst 256 Kilometer – einfach!


Dr. Jürgen Henkel ist Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern sowie Publizist. Er leitete von 2003 bis 2008 die Evangelische Akademie Siebenbürgen (EAS) in Sibiu/Hermannstadt. Derzeit ist er Pfarrer in Erkersreuth bei Selb in Oberfranken. Sein Buch "Neue Brücken oder neue Hürden? Eine Bilanz der Dritten Europäischen Ökumenischen Versammlung 2007" erschien 2008 im LIT-Verlag. In Vorbereitung: "Coca-Cola und Ikonen. 20 Jahre Wende von der kommunistischen Ideologie zur konsumistischen Idiotie".