Tierorakel und Hinterbänkler: Das journalistische Sommerloch

Tierorakel und Hinterbänkler: Das journalistische Sommerloch
Alle Jahre wieder kommt das Sommerloch. Wenn die Politik Urlaub macht, passiert auch in den Redaktionen wenig. Hinterbänkler, Lobbyisten und Oktopusse drängen in den Vordergrund.
14.07.2010
Von Martin Meuthen

Jetzt gibt es keinen Zweifel mehr: Das Sommerloch ist da. Das anhaltende Interesse am Oberhausener Tintenfisch Paul, der alle Spielergebnisse der deutschen Nationalmannschaft bei der Fußball-WM richtig vorhergesagt hatte, ist ein untrügliches Indiz dafür, dass die Redaktionen verzweifelt auf Themensuche sind. Dabei werden sie sogar von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen unterstützt, die davor warnt, sich bei der Lebensgestaltung auf Orakel wie Paul zu verlassen. Im Sealife-Zentrum in Oberhausen sieht man die kostenlose Aufmerksamkeit für den Kraken sicher gern.

Der Anfang des alljährlichen Phänomens hatte sich in diesem Jahr allerdings deutlich verzögert. Neben der Fußball-WM kam in Deutschland auf den letzten Metern zur Sommerpause überraschend noch eine Bundespräsidentenwahl dazu. "Bislang haben wir Glück gehabt", sagt Kai Gniffke, Chefredakteur von ARD-Aktuell und somit zuständig für "Tagesschau" und "Tagesthemen" im Ersten. "In den letzten Wochen gab es überhaupt keine Not an Themen." Dafür komme das Sommerloch nun umso heftiger.

Leerer Terminkalender

"Man merkt es jetzt einfach: Der politische Terminkalender ist leer", so Gniffke. Sicher würden die landespolitischen Vorgänge in Nordrhein-Westfalen die Nachrichtensendungen vorübergehend noch füllen. "Wenn man den Anspruch hat, eine fünfzehn Minuten dauernde Sendung wie die 'Tagesschau' mit Relevanz zu füllen, dann ist das schon schwieriger", sagt Gniffke. Alle Jahre wieder gebe es dann auch mal ein kurzes Sommerloch-Stück über den Ort Sommerloch in Rheinland-Pfalz.

Der Name des Örtchens mit seinen nicht mal 500 Einwohnern passt scheinbar perfekt. Auf der Internetseite der Verbandsgemeinde Rüdesheim finden sich beim Ort Sommerloch aber nur die Namen des Ortsbürgermeisters und seiner Beigeordneten. Keine Themen, keine Hinweise oder Bilder. Klickt man auf "Homepage", so gelangt man zum knappen Wikipedia-Eintrag der Gemeinde. 1158 soll das Örtchen gegründet worden sein. Heute bauen sieben Winzer auf rund 100 Hektar ihre Weinreben an.

Stunde der Hinterbänkler

Die Wochen des Sommerlochs sind erfahrungsgemäß die Hochsaison für Wortmeldungen aus den hinteren Reihen der Politik. Ein Beispiel für derartige Vorstöße ist in diesem Jahr etwa die Forderung nach einem Intelligenztest für Zuwanderer. Gern erinnert man sich auch an 2008, als die EU-Kommission die selbstlöschende Zigarette einführen wollte.

Lobbyisten nutzen ebenso die Gunst der Stunde, wenn nicht nur Politiker im Urlaub, sondern auch die Redaktionen dünn besetzt sind. "Wenn Journalisten schwitzen, um in den lauen Sommermonaten eine brauchbare Ausgabe zu liefern, haben Ihre Presse-Texte die besten Chancen", rät etwa der Bonner VNR Verlag für die Deutsche Wirtschaft auf seiner Internetseite. "Leichter denn je" fänden Kunden dann "ein offenes Ohr für ihre PR". Damit die gewünschte Nachricht abgedruckt werde, solle man es "den Presseleuten so einfach wie möglich" machen. Ein guter Aufbau der Meldung sei schon die halbe Miete.

Früher gab es das Winterloch

Während heutzutage im Sommer manche Redaktion froh sein mag über die ungefragte Anlieferung von Inhalten, war diese Jahreszeit vor rund 200 Jahren noch die Hauptsaison für Berichterstattung. "Im 18. Jahrhundert hatte man noch das Winterloch", sagt Jürgen Wilke, Professor für Publizistik an der Universität Mainz. "Früher waren Kriege der dominierende Teil in der Berichterstattung." Im Winter hätten sich die Truppen jedoch in die Winterpause zurückgezogen. "Zeitungen brachten zu dieser Zeit dann eher gesellschaftliche Themen", erklärt Wilke.

Um den Platz im Sommerloch zu füllen, nutzt etwa die "Tagesschau" die Chance, auf bereits Vorhandenes einzugehen. "Wir haben uns vorgenommen, nochmal auf Themen zu gucken, die wir ein bisschen aus dem Blick verloren haben", sagt Chefredakteur Gniffke. Zum Beispiel die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko, an deren Situation sich in den vergangenen drei Monaten kaum etwas verändert hat. Oder der aktuelle Stand der Dinge bei der Wirtschafts- und Finanzkrise. "Es gibt viele dieser sogenannten semiaktuellen Themen, die es wert sind, sie eben jetzt wieder aufzugreifen."

Und hier die evangelisch.de-Hitliste der schönsten Sommerlochthemen:

1982: "Chopper" sorgt für Aufsehen. In einer Zahnarztpraxis in Regensburg kommen unheimliche Stimmen aus dem Spucknapf. "Chopper" flucht und schimpft, hat aber auch Liebesschwüre parat. Später kommt raus: Alles nur ein Fake der Praxismitarbeiter.

1993: Deutschland gibt sich imperialistisch. Der CSU-Politiker Dionys Jobst schlägt scherzhaft vor, Mallorca für 50 Milliarden D-Mark (die gab es da noch!) als 17. Bundesland zu kaufen. Die "Bild" versteht den Witz nicht und sorgt mit ihrer Berichterstattung für eine heftige Debatte.

1994: Der Kaiman Sammy entwischt an einem Badesee. Es dauert eine Weile, bis Sammy wieder eingefangen wird und die Schwimmfreunde wieder beruhigt im Wasser planschen können.

1998: Diesmal entwischt ein Känguru. "Manni" hüpft nicht nur durch die Landschaft, sondern tagelang durch die Medien, bis er in Nordrhein-Westfalen wieder eingefangen wird.

2000: Das Moorhuhn-Fieber hat Deutschland erfasst - und die Medien berichten fleißig. Das PR-Spiel einer Whiskey-Firma ruft sogar den Tierschutzbund auf den Plan. Und Arbeitgeber machen sich sorgen um die Arbeitsmoral der Mitarbeiter, die statt Büroarbeit zu erledigen lieber auf die virtuelle Jagd gehen.

2001: In einem Weiher in Mönchengladbach verschlingt der Riesenwels Kuno einen Dackel samt Halsband. Auch in diesem Sommer trauen sich daraufhin einige Schwimmer nicht in Naturgewässer.

2006: Wie war das nochmal? Es gibt Nutzbären und Schadbären? Egal: Jedenfalls gab es 2006 den "Problembären" Bruno, der in Bayern Schafe reißt und den auf ihn angesetzten Jägern immer wieder entwischt. Bis zum 26. Juni. Bruno lebt nicht mehr, das Sommerloch lebt weiter.

2007: Frau Pauli, auch Latex-Gabi genannt, hat immer einen Kracher bereit. 2007 fordert sie die Ehe auf Zeit. Der Gedanke stößt allgemein eher auf Ablehnung.

2008: Droht das Ende des Ü-Eis? Politiker überlegen, die Kombination aus Spielzeug und Schokolade zu verbieten. Durchgesetzt hat sich der Vorschlag nicht.

2009: Ulla Schmidt lässt sich den Dienstwagen klauen. Die Diebe lassen die gepanzerte Limousine irgendwann stehen. Ulla ist nach geballter Medienkritik ungefähr so beliebt wie die Praxisgebühr.

Die Allzeitklassiker unter den Sommerlochthemen sind natürlich Berichte über das Sommerloch. So wie dieser hier!

epd