Welch ein Treppenwitz: Ausgerechnet die Regierung des Landes, das wie kein zweites in Westeuropa für wuchernde Einzelinteressen und unversöhnlichen Separatismus steht, darf ein halbes Jahr lang dem Rat der Europäischen Union vorstehen. Zugegeben, die Geschäftsordnung sieht den Wechsel alle sechs Monate vor. Doch dass ausgerechnet Bündnisinstitutionen wie das Europäische Parlament und sogar die Nato in Brüssel residieren, macht die Absurdität nicht plausibler.
Immerhin werten sie damit einen Landstrich auf, der zwar nur so groß wie Brandenburg ist, aber häufiger mit Negativschlagzeilen ins Bewusstsein drängt, als seiner Bedeutung angemessen wäre. Belgien benimmt sich wie ein ungezogenes Gör bei einer Familienfeier. Zu schade, dass man es nicht rauswerfen kann, denken sich die Verwandten insgeheim. Aber wieso eigentlich nicht?
Verbot der Burka
Ende April beschloss das Parlament Belgiens ein Verbot der Burka, des islamischen Ganzkörperschleiers - einstimmig, versteht sich. Wen wundert's: Streit entfachten die Belgier schon immer gern, bevorzugt zwischen unterschiedlichen Ethnien. Die belgische Geschichte lässt einen wahrhaft schaudern. Nachdem die Kolonialmacht 1920 das Mandat für Ruanda bekommen hatte, begann man die dortige Bevölkerung mangels trennscharfer Rassenkriterien aufgrund ihres Besitzes in Hutu und Tutsi zu unterteilen. Die tatsächliche Abstammung spielte keine Rolle mehr. Vermeintlich reiche Familien mit mehr als zehn Rindern wurden automatisch Tutsi, Stempel im Pass inklusive.
Gleichzeitig blieb den Hutu jegliche Bildung und infolge dessen auch der Zugang zu Verwaltungspositionen verwehrt. Die Tutsi durften fortan die kolonialen Hutu-Zwangsarbeiter beaufsichtigen, und spätestens dies machte das ehedem weitgehend friedliche Zusammenleben der Bevölkerungsgruppen zunichte. Als Ruanda 1962 unabhängig wurde und der schwindende Einfluss Belgiens den zuvor so erfolgreich geschürten Hass beider Gruppen nicht mehr zügeln konnte, entlud er sich in Massenvertreibungen und schrecklichen Massakern, über Jahrzehnte hinweg.
Warum nicht dreigeteilt?
Wer belgische Separatisten unserer Tage öffentlich reden hört, wird den Eindruck nicht los, als würden auch rings um Brüssel bereits die Macheten geschärft. Und während es immer wieder zu Ausschreitungen zwischen dem zerstrittenen Ehepaar aus Flamen und Wallonen kommt, das sich offenbar nicht aus eigener Kraft zu einer friedlichen Scheidung durchringen kann, werden die Stimmen lauter, die entsprechende Initiativen von außen und eine Teilung des Landes in Flämische Region, Wallonische Region und Brüssel befürworten.
Für die Flamen würde das ein Dauerärgernis beenden - sie müssten nicht länger die immensen Sozialausgaben der Wallonen nach dem Niedergang ihrer Kohle- und Stahlindustrie finanzieren. Und die Wallonen ihrerseits wären die ungeliebten Brüder und Schwestern los. Vorsichtig ausgedrückt: Gegen die innere Spaltung Belgiens wirkt die viel beklagte "Mauer in den Köpfen" zwischen West- und Ostdeutschen wie eine Wand aus Löschpapier.
Das Gemeinsame fehlt
Dass die gemeinsamen Wurzeln fehlen und die Belgier miteinander buchstäblich nicht dieselbe Sprache sprechen, mag ein Hauptübel sein. Die Schweiz meistert ihre manchmal unbequeme Dreisprachigkeit mit vielfältigem Sprachunterricht in der Schule und einer seit jeher starken Position ihrer Kantone. Nach diesem Vorbild vorzugehen, dafür ist es in Belgien anscheinend zu spät.
Geld ist ohnehin keines da. Belgiens Staatsverschuldung entsprach schon 2008 knapp 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. 2009 stieg diese Rate auf fast 99 Prozent - die dritthöchste Quote in der EU nach Italien und Griechenland. Das Land scheint zu sehr mit sich selbst und seinem Binnenstreit beschäftigt, als dass es sich auch noch um solche Feinheiten wie Wirtschaftspolitik und Außenhandel kümmern könnte.
Leichen im Keller
Im Inneren gäbe es in der Tat genug zu tun. 1973 konstatierte der "Spiegel", die Belgier seien die Ostfriesen der Niederlande - und Frankreichs, muss man hinzufügen. Als Beleg dienten Witze. Weniger lustig war später die Geschichte von Marc Dutroux, der in den 1980er und 90er Jahren etliche Mädchen und junge Frauen ermordete. Zwei achtjährige Mädchen ließ er eingesperrt verhungern, während er im Gefängnis saß. Eine atemberaubende Serie von Ermittlungspannen und Vertuschungsversuchen brachte Belgien den abstoßenden Ruf als Land der Kinderschänder ein.
Die Belgier: ein Volk der übereinander herfallenden Separatisten und Kinderschänder, dem die Welt nichts als Ärger verdankt und Pommes frites, mit Fruchtaroma versetztes Bier und andere Unappetitlichkeiten. Alles nur Klischees? Stimmt, aber die Belgier sorgen selbst dafür, dass die Klischees nicht sterben.
So trat erst im April der Bischof von Brügge wegen des sexuellen Missbrauchs eines Kindes zurück. Der Geistliche hatte sich an einem kleinen Jungen sogar dann noch vergangen, als er selbst bereits Bischof war. Ende Juni durchsuchte die Polizei im Zuge von Ermittlungen wegen Missbrauchs von Kindern und Besitzes von Kinderpornografie Büros im bischöflichen Palast des Erzbistums Brüssel-Mechelen sowie das Büro des im Januar zurückgetretenen Kardinals Godfried Danneels, dessen Computer beschlagnahmt wurde. Papst Benedikt XVI. protestierte - gegen die Polizeiaktion.
Was gut war, ist Vergangenheit
Ja, doch, das kleine Belgien hat einige große Namen hervorgebracht: den virtuosen Jazzgitarristen Philip Catherine; Jacques Brel, den vielleicht bedeutendsten Chansonnier überhaupt; den "Ulenspiegel"-Autor Charles De Coster, den "Maigret"-Vielschreiber Georges Simenon, den Comiczeichner Herge; Rubens, Bruegel den Älteren und René Magritte; und natürlich den durchschlagenden Jean-Claude Van Damme.
Aber Rubens wurde in Siegen geboren, Catherine in London, De Coster in München, Simenon siedelte schon mit 19 nach Paris über, und die meisten anderen sind so tot wie das Ansehen der ehrwürdigen Monarchie. Spätestens als im Juni die nationalistische Neu-Flämische Allianz (NVA) aus der vorgezogenen Parlamentswahl als stärkste Kraft hervorging, wurde klar: Belgien ist noch nicht gestorben, aber es riecht schon ziemlich streng.
So schwer es fällt, ein ganzes Land unsympathisch zu finden: Am besten wäre es, es gäbe Belgien nicht länger. Unsere Nachbarn sollten ihre nervtötende Zwangsgemeinschaft endlich aus der Welt schafften - bevor alle anderen sich zu fragen beginnen, wozu wir eigentlich Belgien brauchen.
Thomas Östreicher ist freier Mitarbeiter bei evangelisch.de.