Im Anschluss zog sich die Theologin erst einmal aus der Öffentlichkeit zurück. In einem ersten ausführlichen Interview nach dem Rückzug sprach der Evangelische Pressedienst (epd) mit Käßmann über ihre Zukunftspläne, die soziale Lage in Deutschland und darüber, wie Kirche sich verändern muss. Die Fragen stellten Ulrike Millhahn und Karsten Frerichs.
Frau Käßmann, fast vier Monate sind seit Ihrem Rücktritt als Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und hannoversche Landesbischöfin vergangen. Ende August gehen Sie für vier Monate an eine Universität in die USA. Werden Sie ungeduldig, sich neuen Aufgaben zu stellen?
Margot Käßmann: Ja, das muss ich zugeben. Zwar waren die letzen Wochen sehr ausgefüllt, ich habe viele Briefe beantwortet, inzwischen auch wieder Vorträge und Gottesdienste gehalten. Aber ich freue mich auf die Emory-Universität in Atlanta.
Was machen Sie in den USA?
Käßmann: Die Emory-Universität hat eines der besten Luther-Archive weltweit. Ich will dort forschen, aber auch selbst Vorträge halten.
Was vermissen Sie, seitdem Sie alle kirchlichen Leitungsämter niedergelegt haben?
Käßmann: Was ich besonders vermisse aus dem Leben einer Landesbischöfin sind die Festgottesdienste: volle Kirchen, fröhliche Menschen, festliche Musik. Auf der anderen Seite genieße ich eine neu gewonnene Freiheit. Leitende Ämter ziehen ein sehr enges Zeitdiktat nach sich. Hinzu kommt die zeitintensive Arbeit in kirchlichen Gremien - die vermisse ich überhaupt nicht.
Kaum war Horst Köhler zurückgetreten, da hat die SPD Niedersachsen Sie als Bundespräsidentin vorgeschlagen. Was war Ihr erster Gedanke, als Sie davon hörten?
Käßmann: Im Moment will ich lieber drei Schritte aus der Öffentlichkeit zurücktreten. Und das Amt der Bundespräsidentin erfordert eine enorme öffentliche Präsenz und Verantwortung.
Nun konkurrieren Joachim Gauck und Christian Wulff um das höchste Staatsamt. Wen bevorzugen Sie?
Käßmann: Es sind beides gute Kandidaten für das Amt, gerade auch aus kirchlicher Sicht. Das ist doch erfreulich.
Sie haben als Repräsentantin der evangelischen Kirche die politische Auseinandersetzung nicht gescheut - Stichwort Afghanistan-Debatte. Inzwischen sagt selbst Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), Sie hätten mit Ihrer umstrittenen Neujahrspredigt eine wichtige Diskussion angestoßen. Eine späte Bestätigung für Sie?
Käßmann: Natürlich freut mich das. Und ich würde diese Predigt jederzeit wiederholen, das habe ich immer gesagt. Dass die Kirche zum Frieden ruft, ist doch überhaupt nicht überraschend.
Hat Sie die Kritik damals persönlich getroffen? Unter anderem wurden Ihnen politische Einmischung und Naivität vorgeworfen.
Käßmann: Kirche muss politisch sein. Und ich habe von Anfang an den Afghanistan-Einsatz kritisiert. Plötzlich, nachdem ich Ratsvorsitzende geworden war, löste das einen Aufschrei aus, mit dem ich überhaupt nicht gerechnet hatte. Das hat mich damals irritiert, manches hat mich auch verletzt. Heute sage ich: Das war gut so!
Die Bundesregierung hat ein drastisches Sparpaket mit sozialen Einschnitten auf den Weg gebracht. Sie fordern kirchlichen Widerstand. Was läuft schief in unserem Land?
Käßmann: Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander. Da müssen die Kirchen Position beziehen, Solidarität mit dem Armen üben. Es kann nicht angehen, dass gerade Hartz-IV-Familien und Wohngeldempfänger belastet werden. Dabei sind doch viele der Besserverdienenden bereit, mehr in das Sozialsystem einzuzahlen. Diese Schieflage müssen die Kirchen anprangern. Der soziale Frieden ist in Gefahr, wenn viele Menschen immer ärmer werden.
Verteidigungsminister Guttenberg hat ein Aussetzen der Wehrpflicht vorgeschlagen. Inzwischen wird über eine Umwandlung der Bundeswehr in eine Berufsarmee gesprochen. Ist das der richtige Weg?
Käßmann: Ich denke ja: Unter den jetzigen Umständen macht eine Freiwilligenarmee wesentlich mehr Sinn. Wenn von den jungen Männern weniger als die Hälfte Wehr- oder Zivildienst leisten, kann von Wehrgerechtigkeit keine Rede mehr sein. Dass die Hälfte eines Jahrgangs wehruntauglich sein soll, ist doch merkwürdig. So gilt zum Beispiel Anfälligkeit für Malaria als Grund zur Ausmusterung: So tropisch sind wir in Deutschland nicht.
Ohne Wehrpflicht kein Zivildienst - wie soll das deutsche Sozialsystem ohne die jungen Männer auskommen?
Käßmann: Sechs Monate Zivildienst sind für einen sinnvollen Einsatz inzwischen ohnehin schon viel zu kurz. Bis sich ein Zivi eingearbeitet hat, ist er schon wieder weg. Für mich kommt als Ausweg nur infrage, Freiwilligendienste zu stärken und mehr Vollzeitstellen zu schaffen.
Reicht das aus?
Käßmann: Zurzeit gibt es viel mehr Bewerber für ein Freiwilliges Soziales Jahr als Stellen. Das Geld, das für die bürokratische Organisation von Zivil- und Wehrdienst ausgegeben wird, sollte besser an die sozialen Träger fließen, um Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen. Absurd wäre aus meiner Sicht eine allgemeine Dienstpflicht. Sie können in ein Altenheim nicht junge Leute stellen, die sagen: "Ich habe keinen Bock." Das wäre unzumutbar für die Hilfsbedürftigen.
Sie sagen, Kirche muss politisch sein und ein Wächteramt wahrnehmen. Das sehen viele anders: Kernaufgabe der Kirche seien Seelsorge und Verkündigung. Was entgegnen Sie?
Käßmann: Dass das eine nicht ohne das andere geht. Kirche muss natürlich vor allem verkündigen, woran sie glaubt. Wenn Menschen das nicht wissen, können sie auch keine ethischen Konsequenzen für ihr Leben ziehen. Deshalb halte ich die Konzentration auf Verkündigung und die Weitergabe des christlichen Glaubens an die nächste Generation auch für zentral.
Ich bin aber davon überzeugt, dass christlicher Glauben nicht verkündet werden kann, ohne auch über politische Auswirkungen zu sprechen. In der Bibel steht "Der Fremdling, der unter euch wohnt, den sollst du schützen". Ein Christ kann also nicht tatenlos zusehen, wenn Asylsuchende abgeschoben werden.
Wie sollte Kirche angesichts von Mitgliederrückgang und Einnahmeschwund in die Zukunft gehen?
Käßmann: Es ist unsere Aufgabe, einer sterbenden Frau die Hand zu halten, auch wenn sich das ökonomisch nicht rechnen lässt. Die Kirche darf sich nicht in ökonomische Zwänge drücken lassen und nur noch auf Zahlen fixiert sein. Auch wenn nur 15 Gottesdienstbesucher in der Kirche waren, macht das Sinn. Ich bin gegen eine "Theologie des Erfolges", die sich daran misst, wie viele Menschen in einen Gottesdienst besuchen. Jesus ist gekreuzigt worden und gestorben, und das war auf den ersten Blick der totale Misserfolg. Aber genau dadurch ist neues Leben geweckt worden.
Wir werden in diesem Land eine relevante evangelische Kirche bleiben, auch wenn die Umstände sich verändern werden. Eine Kirche darf nun wirklich keine Angst vor Veränderung haben. Sie muss sich ihr Gottvertrauen bewahren. Auch die Institution Kirche braucht Glaubenszuversicht.
Sie werden wegen ihrer starken öffentlichen Präsenz als "Popstar der Protestanten" bezeichnet. Wie erklären Sie sich das?
Käßmann: Erklären kann ich das nicht, und ich fände es auch falsch, wenn es so wäre. Die evangelische Kirche braucht viele Gesichter. Nach lutherischem Amtsverständnis kann es nicht eine Person geben, die sich von anderen abhebt - und Heiligenverehrung kennen wir auch nicht im Protestantismus.
Gleichzeitig gibt es in der Mediengesellschaft eine Sehnsucht, sich mit jemandem zu identifizieren. In den Briefen und in den Mails, die ich bekomme, nehme ich wahr, wie viele Menschen in ihrem Leben Brüche kennen. Die meisten versuchen, sie zu verbergen. Keinem ist es angenehm, Fehler zuzugeben - schon gar nicht, wenn dies wie bei mir so dermaßen in die Öffentlichkeit getragen wird. Vielleicht tragen mein Eingeständnis von Versagen und mein Umgang mit Brüchen im Leben, mit meiner Krebserkrankung, dem Scheitern meiner Ehe und dem Rücktritt, dazu bei, dass die Menschen sich mit mir identifizieren.
Fällt es heutzutage schwerer, Scheitern als Teil des Lebens zu akzeptieren?
Käßmann: Ja, ich denke schon. Aber jeder versagt hier oder da, und wird trotzdem von Gott geliebt. Nicht jeder kann "Germany's next top Model" sein oder bei "Deutschland sucht den Superstar" gewinnen. Die meisten bleiben auf der Strecke. Das entspricht dem christlichen Menschenbild, in dem das Scheitern inbegriffen ist.
Wird Ihre Popularität für die Amtskirche nicht ein Problem, weil Sie zeigt, woran es ihr fehlt - nämlich an Glaubwürdigkeit und Herzenswärme?
Käßmann: Die Amtskirche muss aufpassen, dass sie nicht so wahrgenommen wird wie eine bürokratische Behörde. Die Kirche wird immer auch davon leben, dass es Kantiges und nicht Eingliederbares gibt. Wenn wir sagen, der Heilige Geist bewegt die Kirche, dann muss es auch möglich sein, gegen den Strich zu bürsten.
Persönlich möchte ich mich auf keinen Fall gegen die Institution Kirche ausspielen lassen oder einen Dissidenten-Status haben. Ich habe eine große Liebe zu dieser Kirche, und ich sehe mich auch weiter in ihrem Dienst und nicht irgendwo auf einem Gleis daneben.
Was wartet auf Sie, wenn Sie im Dezember aus den USA zurückkehren?
Käßmann: Die Frage kann ich nicht beantworten. Das weiß ich noch nicht.
Was muss die neue Aufgabe denn bieten?
Käßmann: Ich wünsche mir, dass ich meine Erfahrungen in die Kirche einbringen kann und gleichzeitig ein Stück Freiheit behalte. Ich möchte ein Stück von den ständigen Anforderungen zurücktreten, die mein Leben in den vergangenen elf Jahren bestimmt haben.
Frau Käßmann, Sie waren mehr als zehn Jahre Bischöfin der hannoverschen Landeskirche. Was wünschen Sie sich für die nächsten zehn Jahre in ihrem Leben?
Käßmann: In den vergangenen Monaten habe ich gelernt, nicht mehr auf zehn Jahre zu planen. Es kann alles ganz schnell ganz anders kommen. Innerhalb von zehn Minuten und durch eine rote Ampel kann sich ein ganzer Lebensentwurf ändern.