Wenige Minuten nach Beginn der Rede von Präsident Hamid Karsai kam es zu einer schweren Detonation östlich des Versammlungs-Zeltes. Der Präsident setzte seine Ansprache fort. Mindestens zwei weitere Explosionen waren kurz darauf mehrere Kilometer südwestlich des Zeltes zu hören. Dort kam es auch zu Maschinengewehrfeuer, das andauerte. Karsai verließ unterdessen den Veranstaltungsort in seinem gepanzerten Konvoi. Hubschrauber kreisten über dem Ort der Gefechte.
Der Grund der Detonationen war zunächst unklar. Karsai rief die rund 1.600 Delegierten bei der ersten schweren Detonation zur Ruhe auf. Karsai appellierte in seiner Eröffnungsrede an die Taliban, die Waffen niederzulegen. "Ich rufe Dich wieder dazu auf, mein Bruder, mein lieber Talib, kehre zurück. Dies ist Dein Land." Er betonte, dem Terrornetz Al-Kaida könne nicht vergeben werden. An die Adresse der Delegierten sagte der Präsident, er hoffe, dass sie nach den drei Tagungstagen eine hoffnungsvolle Nachricht an das Volk hätten.
Strengste Sicherheitsvorkehrungen
Die "Friedens-Dschirga" findet unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen statt. Sie soll den Grundstein für eine Aussöhnung mit den Taliban legen. Die Versammlung ist auf drei Tage angesetzt. Karsai hat die Aussöhnung mit den radikal-islamischen Taliban zur wichtigsten Aufgabe seiner zweiten Amtszeit erklärt und die Versammlung einberufen. Die Taliban lehnen die Dschirga strikt ab.
Nach Angaben des Innenministeriums sind wegen der Dschirga 12.000 zusätzliche Sicherheitskräfte in Kabul eingesetzt, um Anschläge zu verhindern. Afghanische Soldaten und Polizisten werden von der Internationalen Schutztruppe ISAF unterstützt. An der Ratsversammlung nehmen keine Aufständischen teil. Karsai erhofft sich breite gesellschaftliche Unterstützung für seinen Aussöhnungskurs und ein Mandat für den Beginn eines Friedensprozesses.
"Dieser Krieg wird nicht enden, Bruder"
Militärflughafen Kabul vor wenigen Tagen: Drei Afghanen kauern auf dem Betonboden vor dem Flughafengebäude, ihre Hände sind mit Kabelbindern gefesselt, Schutzbrillen mit geschwärzten Gläsern rauben ihnen die Sicht. Die afghanischen und amerikanischen Soldaten, die die Männer bewachen, haben die Verdächtigen in der südafghanischen Taliban-Hochburg Helmand gefasst. Die Gefangenen sehen nicht wie Kämpfer, sondern schwer verängstigt aus.
Ein Soldat einer US-Sondereinheit sagt, die drei Männer würden in Kabul wegen Terrorismus und Drogenanbau angeklagt werden. Er zeichnet ein düsteres Bild von der Lage im Süden. Bei seinem letzten Einsatz sei er knapp einem Bombenanschlag entgangen, sagt der Amerikaner. Die Taliban griffen die Truppen an, wo immer sie könnten. Der Soldat meint: "Dieser Krieg wird nicht enden, Bruder."
USA kündigen Abzug an
Der nicht endende Krieg: Das ist der Alptraum für die Truppensteller-Nationen, in denen das Engagement mit jedem getöteten Soldaten auf breitere gesellschaftliche Ablehnung stößt. Die Amerikaner, die am Hindukusch den Ton angeben, haben den Beginn des Abzugs ihrer Truppen für Juli kommenden Jahres angekündigt - obwohl sich die Lage nicht verbessert, sondern dramatisch verschlechtert hat. Ein Kenner des Landes spricht vom "Endspiel" in Afghanistan.
Vor Beginn des Abzugs werden die derzeit schon mehr als 100.000 ausländischen Soldaten in Afghanistan noch einmal verstärkt, um den militärischen Druck auf die Taliban und die anderen Aufständischen- Gruppen zu erhöhen. Die Extremisten sollen so zu Verhandlungen mit der Regierung gezwungen werden, die der letzte Ausweg aus der verfahrenden Lage sein könnten. Die Basis für Gespräche soll die von Präsident Hamid Karsai ins Leben gerufene "Friedens-Dschirga" bereiten, die am Mittwoch in Kabul beginnen soll.
Aufständische nicht dabei
An der für drei Tage angesetzten Ratsversammlung nehmen keine Aufständischen teil, und sie wird auch keinen unmittelbaren Frieden bringen. Delegierte aus weiten Teilen der Gesellschaft und aus allen Provinzen sollen der Regierungsseite den Weg zu Gesprächen ebnen und über Bedingungen für Verhandlungen diskutieren. Im besten Fall könnte die Dschirga ein erster Schritt in Richtung eines Friedensprozesses sein, der aber kaum zu schnellen Erfolgen führen würde.
Nachdem nun auch die lange Zeit zögerliche US-Regierung erklärt hat, sie unterstütze die Dschirga, hofft Karsai auf ein klares Mandat der einflussreichen Teilnehmer für seinen Versöhnungskurs. Seine Regierung hat einen 36-seitigen Entwurf für ein "Friedens- und Reintegrationsprogramm" erarbeitet, das nun debattiert wird. Das Konzept sieht unter anderem die Möglichkeit vor, den Anführern des Aufstands Exil anzubieten. Einfache Kämpfer sollen straffrei ausgehen. Als Bedingungen für eine Aussöhnung sieht der Entwurf vor, dass die Aufständischen die Verfassung anerkennen, der Gewalt abschwören und sich vom Terrornetz Al-Kaida lossagen.
Taliban fordern Abzug
An diesen Voraussetzungen wird auch die Staatengemeinschaft nicht rütteln lassen, deren Engagement am Hindukusch sonst zur Farce würde. Ob sich die Aufständischen diese Konditionen werden diktieren lassen, erscheint aber fraglich - sie wähnen sich auf der Siegerstraße. Die Taliban fordern unverändert einen Abzug der ausländischen Truppen als Grundlage für Gespräche. Das wiederum ist eine Bedingung, auf die sich Karsai nicht einlassen wird: Ein vollständiger Abzug der Soldaten vor einer politischen Lösung des Konflikts würde Karsai nicht nur sein Amt, sondern vermutlich sein Leben kosten.
Neben den Taliban kämpft in Afghanistan unter anderem die Hisb-e Islami von Ex-Premierminister Gulbuddin Hekmatyar (HIG), die auch zahlreiche Anschläge gegen die Bundeswehr verübt hat. Die HIG hat ihrerseits einen Fahrplan vorgelegt, der eine Übergangsregierung, einen Abzug aller Truppen bis zum Jahresende und danach angeblich die Wahl einer islamischen Regierung vorsieht.
Solange ausländische Soldaten im Land seien - oder solange nicht zumindest ein Abzugstermin und ein Waffenstillstand vereinbart würden -, kämpften die Aufständischen weiter, sagte Hekmatyars Sprecher kürzlich im pakistanischen Peshawar. Die bevorstehende Dschirga nennt er "nutzlos". Karsai sei gar nicht in einer Position zu verhandeln - das sei nur die US-Regierung. Und der HIG-Chef werde niemals ins Exil gehen, sagte sein Sprecher. "Hekmatyar wird bis zu seinem letzten Tag in seinem Land bleiben. Dagegen werden Karsai und seine Kumpane in der Zukunft aus dem Land fliehen müssen."