Wo der ganz schöne, bloß durch langjährige Baustellen beeinträchtigte Boulevard Unter den Linden auf die geschäftige Friedrichstraße trifft, ist Berlin am hauptstädtischsten. Die Ladenlokale dort mieten gerne Autohersteller an, um ihre Produkte als Foto-Anreiz für Touristen ins Schaufenster zu stellen. Eine "Digital Eatery" befindet sich auch da – betrieben vom US-amerikanischen Microsoft-Konzern (der in Deutschland ja lukrative Interessen zu vertreten hat). In diesem Ambiente fand am Dienstag ein "netzpolitischer Parteiencheck" des eco e.V. statt. Beim eco handelt es sich um einen der beiden großen Internetwirtschafts-Verbände; es ist nicht der, der 2017 den Negativpreis BigBrother-Award bekam (für "seine penetrante Lobbyarbeit gegen Datenschutz und weil er de facto eine Tarnorganisation großer US-Konzerne ist", das war die Bitkom), sondern der andere.
Wegen der im Mai bevorstehenden Europa-Wahl diskutierten Bundestags- bzw. Europa-Abgeordnete von vier Parteien – Nadja Hirsch (FDP), Saskia Esken (SPD), die Grüne Anna Christmann und Tankred Schipanski (CDU). Ob weitere Parteien, die Linke und die AfD, angefragt worden waren, ließ sich nicht erfahren; im Verlauf des Abends ging es eher ums Netzwerken der Unternehmer, Berater und Ministerialbeamten. Journalisten waren wenige da, Stefan Krempl von heise.de berichtete. Aufschlusreich war der Speed-Datings nachempfundene "Parteiencheck" jedenfalls. In fünf Fragerunden hatte jeder Politiker (präziser: jede Politikerin; schließlich standen drei Frauen neben einem Mann) maximal zwei Minuten Zeit, die jeweilige Frage zu beantworten.
"Sehr unbefriedigend", sagt der CDU-Mann
Die PolitikerInnen kamen meist sogar noch schneller auf den Punkt und machten durchgehend einen kompetenten Eindruck. Inhaltlich am auffälligsten: Es gab gar keine Streitpunkte. Das zeigte sich am klarsten beim aktuell brisantesten Thema Urheberrecht. Die EU-Reform (um die es in der Kolumne "Artikel 13, Artikel 11 und die Lobbys" hier schon mal ging) befindet sich noch immer auf dem Weg durch die Instanzen der EU, um vielleicht – gerade noch rechtzeitig vor der Wahl – verabschiedet zu werden. Am Mittwoch hat sie "die vorletzte größere Hürde passiert" (wiederum Krempl, heise.de).
Die Runde zum Urheberrecht begann Christmann. Einerseits verdienten die Urheber Schutz, andererseits hätten die Nutzer von Plattformen berechtigte Interessen. Die eigentlich eloquente Grüne verhaspelte sich etwas – was die Lage im Europaparlament spiegelt: Mit der Piratin Julia Reda gehört die wohl prominenteste deutsche Gegnerin der Reform in ihrer aktuellen Form der grünen Fraktion an, mit Helga Trüpel auch eine der relativ bekanntesten Befürworterinnen (wenn man davon absieht, dass der CDU-MdEP Axel Voss zur Reizfigur aller Gegner wurde und seine auch nicht ungereizten Antworten zu allerstrittigsten Frage der "Upload-Filter" gerade gerne zitiert werden).
Was sagte Voss' Parteifreund Schipanski? Er nannte den aktuellen Entwurf "sehr unbefriedigend". Die Digitalpolitiker seiner Fraktion seien "nicht begeistert" – für Unions-Politiker, die lange Jahre niemals andere Meinungen als Bundeskanzlerin Merkel vertraten, bemerkenswert. Merkel hatte am selben Tag bei einer Veranstaltung des Vodafone-Konzerns angekündigt, dass Deutschland für diese Fassung stimmen werde. Zum Leistungsschutzrecht (LSR), das ebenfalls EU-weit eingeführt werden soll, sagte Schipanski, dass eigentlich das seit 2013 gültige deutsche LSR evaluiert gehörte, bevor ein ähnliches Modell EU-weit eingeführt wird. Da gab es Widerspruch – ein bisschen.
SPD-Kollegin Esken fand, auch ohne Evaluation sei die "Bauchlandung" deutsche LSR offensichtlich. Sie nannte Merkels Haltung "unbefriedigend" und zitierte den Koalitionsvertrag, der sich ausdrücklich gegen Upload-Filter wandte. FDP-Frau Hirsch meinte schließlich, dass das LSR wenig schaden, sondern bloß keine Wirkung entfalten werde, genau wie das deutsche. Dagegen würden die Uploadfilter dem Standort, also kleinen und mittleren Unternehmen sowie Start-ups (die jeder Auch-Digital-Experte immer extra erwähnt, so als handele es sich bei ihnen nicht um Unternehmen) "massiv schaden".
Internetpolitik als eigenes Ressort
Das Podium war sich also einig. Und der eco-Vorsitzende Oliver Süme, der nach jeder Runde zwei Minuten bekam, um die Position seines Verbands zu umreißen, stimmte ein, bloß etwas alarmistischer. Schließlich vertritt er keine Bundesregierung, die genau diesem Gesetz zustimmt: Digitaltauglichkeit des Urheberrechts wäre wichtig und mit der alten, noch "aus der Zeit des Buchdrucks" stammenden Gesetz nicht gewährleistet, das neue aber sei "komplett vermurkst".
Vielleicht hängt der umfassende Konsens damit zusammen, dass genau die Parteien aus der Mitte des sich auffächernden politischen Spektrums vertreten waren, die in allen denkbaren Kombinationen gemeinsam regieren könnten. Eher aber dürfte er damit zusammenhängen, dass Netz-, Internet- oder Digitalpolitik, wie immer man sie nennen möchte, ein weit nachgeordnetes Politikressort ist. Die Experten der Parteien sind weitestgehend unbekannt, schon weil sie keine Minister sind (nicht mal Staatsminister wie die halbwegs bekannte, aber offenbar auch nicht besonders durchsetzungskräftige Dorothee Bär). Sie können ihre Positionen äußern. Doch fürs Regierungshandeln spielen sie keine Rolle.
Und es ist ja so, dass die deutschen Parteien im großen EU-Parlament (auch wenn das mit derzeit 751 Abgeordneten nur unwesentlich größer ist als der absurd angeschwollene Bundestag mit 709) allenfalls eine mittelgroße Rolle spielen. Und so, dass das EU-Instrument des "Trilogs" – Verhandlungen zwischen Parlament, Rat (also den Regierungen der Mitgliedstaaten) und der EU-Kommission – inzwischen eher berüchtigt ist. Gesetzespakete, die einmal stimmig gewesen sein mögen, werden durch immer neue, kaum transparente Kompromisse so verändert, dass am Ende alle Experten dagegen sind und nurmehr genervte Regierungschefs dafür. In den vielen, personalstarken Institutionen der EU gibt es zurzeit niemanden, der Vertrauen für mittel- und langfristige netzpolitische Pläne aufbaut. Und die kommende Wahl dürfte alles noch schwieriger machen, da anschließend mehr Parteien in mehr, zerstritteneren Fraktionen im EU-Parlament das Kompromisse-Erhandeln noch schwieriger gestalten dürften.
Ließe sich etwas tun? Am besten wäre, Netz-, Internet- oder Digitalpolitik endlich als eigenes Ressort mit Ministerrang zu etablieren. Das vor allem auf Bundesländer-Ebene wichtige, dort ebenso nachgeordnete Politikfeld der Medien- und Rundfunkpolitik könnte dazu kommen; in der Lebensrealität der Bürger wachsen die Inhalte längst zusammen. Im Journalismus wäre wichtig, häufiger größer über netzpolitische Themen zu berichten. Die klar erkennbaren Widersprüche selbst innerhalb der Parteien wären ein Hebel. Warum kümmern sich die Polit-Talkshows nicht darum? Sie lassen sich ihre Agenda viel zu oft von der Bundesregierung und den vorhandenen Ministerien diktieren. Das Themenfeld ist gewiss komplex, aber top-aktuell und interessant (wie diese Kolumne hoffentlich ein bisschen zeigen konnte).