Die "Tagesschau" ringt mit sich

Die "Tagesschau" ringt mit sich
... und das ist konstruktiv anzusehen. Gerade weil die Diskussionen, wie und über was öffentlich-rechtliche Nachrichtensendungen berichten sollten, so schwierig ist.

Es anzuschauen, macht keinen Spaß, ist aber konstruktiv. Und es ist eine so seltene wie seltsame Medien-Form: Der ARD-aktuell- und damit "Tagesschau"-Chefredakteur Kai Gniffke sitzt für eine gut halbstündige Video-Show vor einer statischen Kamera. Diese Sendung wurde live im Internet über Facebook ausgestrahlt und ist als Aufzeichnung im Internetauftritt von tagesschau.de verfügbar. Gniffke verliest ausgewählte E-Mails und Kommentare von Zuschauern und antwortet dann darauf. Es ist also asymmetrisch, da die Fragesteller nicht reagieren konnten, was ja technisch möglich ist. Außer den Sendern haben längst auch die Empfänger Webcams (und mit "Sag's mir ins Gesicht" haben 2017 Gniffke und sein "Tagesschau"-Redaktion auch so etwas bereits ausprobiert). Aufschlussreich ist es es dennoch.

Das Thema war ebenfalls nicht neu, sondern eine aus leider oft neuen Anlässen wieder aufgenommene alte Diskussion. Um einen "Tötungsfall" beziehungsweise eine "tödliche Attacke" in Offenburg ging es, wie der Chefredakteur vorsichtig formulierte. Schließlich darf der Begriff "Mord" bis zum Gerichtsurteil nicht ohne umständliches "mutmaßlich" verwendet werden. "Ein somalischer Asylbewerber hat offenbar ... einen 51-jährigen Hausarzt aus ungeklärten Motiven mit einem Messer erstochen". Gniffke hatte zuvor im Blog der "Tageschau" erklärt, warum die ARD-Nachrichtensendung nicht darüber berichtete.

Über ähnliche Themen hatte es viele heftige Diskussionen gegeben, etwa nach Taten in Freiburg und im rheinland-pfälzischen Kandel (vgl. diese Medienkolumnne). Gniffke hatte ähnliche Kritik antizipiert. Die "Tagesschau" könne nicht über einzelne Mordfälle berichten, schrieb er, doch

"wo die Meinungen auseinander gehen, ist die Frage, ob wir darüber berichten sollten, wenn es sich beim Tatverdächtigen um einen Asylbewerber handelt. Aus meiner Sicht sollten wir das dann tun, wenn Asylbewerber überproportional an Tötungsdelikten beteiligt wären. Das ist, soweit wir es recherchieren können, nicht der Fall. Deshalb haben wir uns gegen die Berichterstattung entschieden."

Kontrolliertes Pathos

Die meistbeachtete Gegenrede kam von Boris Palmer, dem im Grünen-Milieu sehr umstrittenen Grünen-Politiker und Oberbürgermeister von Tübingen (das wie Offenburg und Freiburg im grün-schwarz regierten Baden-Württemberg liegt). Palmer hatte auf Facebook "drei Gründe, warum die Tagesschau besser doch über den Mord von Offenburg berichtet hätte", gepostet. Einer dieser Gründe:

"Nicht über so einen tragischen und ungewöhnlichen Fall zu berichten erweckt den Eindruck, man wolle wie in Köln eben nicht berichten, weil der Tatverdächtige ein Asylbewerber ist. Das nährt die These von den Systemmedien und macht die Empörung im Netz um so größer. Schon um dieser absehbaren Entwicklung entgegen zu treten und nicht den Eindruck zu verstärken, es werde etwas unter den Tisch gekehrt, wäre ein Bericht richtig gewesen."

Im wenige Tage später entstandenen Video wägt Gniffke sichtlich seine Worte, spricht mal für sich selbst (etwa, was seine persönliche Meinung zu Abschiebungen abgelehnter Asylbewerber betrifft) und mal für die "Tagesschau", die schließlich das Flaggschiff der dezentral organisierten ARD ist. Selten greift er zu – kontrolliertem – Pathos ("Wir haben Deutschland im Herzen und die Fakten im Kopf"). Daneben greift er nicht; allenfalls über seine Schlussbemerkung ließe sich streiten. Da wünscht er "viel Spaß" bei der "Tagesschau" (die kurz nach der Live-Sendung des Videoformats auf Facebook folgte). Falls es jemals Zeiten gab, in denen die "Tagesschau" Spaß bereitet hat, müssen sie lange zurück liegen.

Die Argumentation ist dieselbe wie zuvor: Die "Tagesschau" könne nicht über "einzelne Kriminalfälle" berichten. Bei der Interpretation der Gewaltkriminalität von Asylbewerbern sei man schnell "knietief in der Diskussion über Kriminalstatistiken". Spätestens, seitdem der mächtigste Mann der Welt und des Westens, der in Nachrichtensendungen jede Menge Raum bekommt, so wie ungefähr alles auch die deutsche Kriminalstatistik anders interpretierte als hiesige Behörden, ist bekannt, wie unterschiedliche Interpretationen ausfallen können.

Wie schwierig die Entscheidung, worüber berichten, ist, wird gut deutlich. So gab es kürzlich in Hamburg einen Vergewaltigungsvorwurf gegen einen afghanischen Asylbewerber an einer Minderjährigen. Darüber hatte das "heute-journal" des ZDF berichtet. Kurz darauf bestand "kein dringender Tatverdacht mehr", der mutmaßliche Täter wurde wieder freigelassen. Da hatte die ARD, die ebenfalls nicht darüber berichtet hatte, also richtig gehandelt. Andererseits wurde Gniffke nach einem weiteren aktuellen Tötungsdelikt in Düsseldorf (vgl. dpa-Ticker) gefragt, über das die "Tagesschau" ebenfalls nicht berichtete.

Das Problem mit "Tagesschau24"

Es ist also enorm schwierige Diskussion um jeweils schwer einzuschätzende Anlässe. Unterschiedliche Standpunkte haben ihre Berechtigung. Meiner ist: Die "Tagesschau" müsste mehr über solche Fälle berichten. Allein der Eindruck, negative Aspekte der Flüchtlingspolitik würden ausgeblendet, schadet der Gesamt-Glaubwürdigkeit öffentlich-rechtlicher Nachrichtensendungen. Schließlich berichten sie häufig über das Themenfeld, über gut integrierte Flüchtlinge und über Abschiebeflüge sowie die Kritik daran. Kommentare etwa von Anja Reschke oder Georg Restle erhalten mit Recht viel Aufmerksamkeit und Lob (und werden oft, oft auch jenseits akzeptabler Grenzen, kritisiert). Überzeugungskraft können sie nur entfalten, solange nicht der Eindruck besteht, dass negative Aspekte des Themas ohnehin nicht vorkommen. Und den Tonfall, angemessen nüchtern und unemotional zu berichten, beherrscht kein anderes Medium ähnlich gut wie "Tagesschau" (während moderierte Nachrichtensendungen wie die "Tagesthemen" auch das emotionalere, dennoch sachliche Einordnen beherrschen).

Es ist keine Frage, dass Auswählen eine journalistische Kernkompetenz ist und viel mehr geschieht als in 15- oder 30-minütige Nachrichtensendungen passt. Einmal weist Gniffke die Zuschauer-Anrehung einer "zweiten Hauptausgabe" der "Tagesschau" zurück. Dabei verantwortet seine Redaktion ja eine Menge mehr: kürzere "Tagesschau"-Ausgaben tagsüber, die längeren "Tagesthemen" und den Internetauftritt tagesschau.de. Überdies gibt es den Fernsehsender "Tagesschau24", der trotz seines doppelt klangvollen Namens nicht im geringsten ein rund um die Uhr sendender Nachrichtenkanal ist, sondern ein ziemlich gleichgültiger Wiederholungskanal der ARD. Gerne sendet er Verbraucher-Magazine der Dritten Programme, in denen etwa Menschen Lebensmittel kosten und raten müssen, um was es sich handelt. Solche Sendungen bereiten vielleicht Zuschauern Spaß – aber mit Nachrichten haben sie nichts zu tun. Dass es keinen öffentlich-rechtlichen Nachrichtensender gibt, der den Namen verdient und auf manche berechtigten Kritikpunkte reagieren könnte, ist freilich nicht Gniffkes Schuld, sondern die der über Jahrzehnte verkrusteten deutschen Rundfunkpolitik.

Es bleibt also an allen Ecken und Enden eine schwierige Lage. Im kontinuierlichen Strom der Nachrichten müssen immerzu schnell Entscheidungen getroffen werden, die immer aus unterschiedlichen Richtungen anfechtbar sind. Diskussionen darüber sind notwendigerweise schwierig, manchmal  bis quälend. Sich Kritik offen und möglichst transparent zu stellen, wie Kai Gniffke es gerade tat, ist aber ein richtiger Weg, um das Ansehen und die Bedeutung einer öffentlich-rechtlichen Nachrichten-Instanz wie der "Tagesschau" zu erhalten.

 

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