Ein gemeinsamer Nenner der Medienerfahrungen vieler Menschen dürfte darin bestehen, dass die Menge der laufend neuen Inhalte sie überfordert oder fasziniert. Ob eher überfordert oder eher fasziniert, hängt natürlich von vielen Faktoren ab, vom individuellen Informations- oder Unterhaltungsinteresse, von der jeweiligen Tagesform und Konzentration etwa.
Jedenfalls beeindrucken Kennziffern wie die hunderte Jahre Videomaterial, das Youtube pro Tag scannt (um einen Teil davon aus diesen oder jenen, vor allem rechtlichen Gründen zu sperren) oder die 3,3 Milliarden Fotos, die täglich geteilt werden (wobei dieser Wert im Sommer 2016 beziffert wurde und längst deutlich höher liegen dürfte). Das persönliche Medienzeit-Budget kann gar nicht ausreichen, um auch nur ansatzweise zu überblicken, was immerzu in Echtzeit in die Timelines, oder wie immer sonst man es dennoch versucht, einläuft.
Gedichte fürs Smartphone ...
Ältere Fernsehproduktionen sind leider selten zu sehen, obwohl es gute Gründe gibt, sie interessanter als neue zu finden (das war in dieser Medienkolumne Thema). Ältere Kinofilme füllen bei Netflix und Youtube das Angebot auf. Alte Bücher lassen sich in unterschiedlichen Formaten gratis runterladen, sofern die Autoren seit 75 Jahren tot sind. Deshalb sind beispielsweise inzwischen die Werke des 1947 gestorbenen Hans Fallada – der kurz bevor sie gemeinfrei wurden, nochmals zum Bestseller-Autor avancierte – bei gutenberg.spiegel.de gratis zu lesen. Bemühungen, Interessantes von einst in die Timelines einzuspeisen, gibt es auch. So bietet die App "Poesi" nach eigenen Angaben nicht nur bereits "über 1000 der wichtigsten, spannendsten und schönsten Gedichte" von rund 80 deutschsprachigen Dichterinnen und Dichtern zum Durchstöbern, sondern auch täglich ein "Gedicht des Tages". Das wird so aufs Handy geschickt wie der laufend aktualisierte Wetterbericht (sofern man den nicht deaktiviert).
Und in einem Medien-Bereich, in dem ziemlich unstrittig sein dürfte, dass vieles vom insgesamt Besten im vorigen Jahrhundert eingespielt und zu großen Anteilen in noch fernerer Vergangenheit geschrieben wurde, hat sich in Berlin ein Start-up-Unternehmen etabliert, das bereits rund 115.000 registrierte Nutzer in 82 Ländern hat, obwohl es in wichtigen Märkten wie den USA noch gar nicht gestartet ist. "Idagio" stellt sich gern als "Spotify für klassische Musik" vor, bietet Kunden also klassische Musik zum Abruf per Streaming an. Manchmal spricht Till Janczukowicz den Firmennamen mit deutschem, manchmal mit englischem "i" aus. Das zeigt schon, dass er oft mit internationalen Investoren wie Macquarie Capital aus Australien spricht. Zurzeit stecken rund 12 Millionen Euro in dem Unternehmen, das er mit Christoph Lange (der als Student den zeitweise aussichtsreichen Spotify-Wettbewerber "Simfy" gestartet hatte) gründete.
Einen Exit wie die meisten Startup-Gründer, die gerne verkaufen, sobald globale Konzerne ihre Gründung kaufen wollen, plant Janczukowicz eher nicht. "Klassische Musik war immer mein Leben, zunächst als Manager, Konzertveranstalter und Produzent, also 'offline'", erzählt er. Irgendwann habe er sich die Fragen nach den Hauptproblemen der Musiker denen ihrer Hörer gestellt und sei zur Erkenntnis gelangt: "Es herrscht ein datengetriebener Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der Hörer. Ich wusste: Wir müssen irgendwie in die viereckigen Dinger reinkommen, sonst verlieren wir an Relevanz."
... und "spritzige" oder "beunruhigende" Musik
Relevanz in Form weiterer faszinierend-überfordernder Kennziffern besitzt Idagio inzwischen. Aktuell bestehe das Repertoire aus rund 200.000 Aufnahmen, was über 640.000 "Tracks" im technischen Sinne entspricht. Im September soll das Angebot dann eine Million "Tracks" bieten. Dann könnten Kunden, rein rechnerisch, sieben Jahre lang klassische Musik ohne Wiederholung anhören – zumindest, was unterschiedliche Interpretationen derselben Kompositionen angeht. Die Klassik ist ja "ein begrenztes System von Coverversionen", wie Janczukowicz sagt.
Von "Tracks" zu sprechen, ist kein Anbiedern an den Start-up-Sprachgebrauch voller Anglizismen, sondern ein Unterscheidungsmerkmal vom wichtigsten Wettbewerber Spotify. Der bietet zwar durchaus die Musikrichtung "Classical für Dich", aber nicht besonders differenziert. "Bei Spotify wird immer 'ein Artist' genannt. Wenn Maria Callas Puccinis 'Madame Butterfly' singt und Karajan dirigiert, wer ist dann der Artist?", fragt Janczukowicz. Aus solchen Gründen habe Idagio, dessen gut 50 Mitarbeiter mehrheitlich Entwickler sind, "ein eigenes Backend-Modell mit über 100 Kriterien, unter anderem für jedes Instrument, und einen Werke-basierten Empfehlungs-Algorithmus" ersonnen. Das Angebot lässt sich auch nach Komponisten und Musikern durchsuchen, sowie via "Mood-Searcher", der klassische Musik in vierzehn Stimmungen zwischen "erregt", "spritzig" einer-, "beunruhigend" und "melancholisch" andererseits empfiehlt. "Hörer müssen keine Spezialisten sein und die Semantik kennen", beschreibt Janczukowicz die Idee dahinter. Die Listen seien "handkuratiert" von Menschen, die das einstweilen besser könnten als künstliche Intelligenz. Kenner wüssten zum Beispiel, dass, wem Musik von Gustav Mahler gefällt, auch Musik von dessen Kompositionsklassen-Kamerad, dem mit 25 Jahren in einer österreichischen "Irrenanstalt" gestorbenen Hans Rott gefallen könnte.
Dass Idagio nach tatsächlich gehörten Sekunden abrechnet statt schlicht nach Tracks (die im Fall von Symphonie-Sätzen um ein Vielfaches länger sein können als Popsongs, die ebenfalls als Tracks gelten), gehört zur Geschäftsidee, um allen Rechteinhabern – Musikkonzernen, Orchestern und auch Rundfunkanstalten – attraktiven Verträge anbieten zu können. Wer sich als Kunde etwas aus dem gewaltigen Angebot auf ein Endgerät streamen lassen möchte, muss gut zehn Euro im Monat bezahlen. Schließlich ist Musik unter den Mediengattungen ein Vorreiter bei der Digitalisierung – zunächst beim Niedergang und dann beim Zurechtkommen unter neuen Bedingungen. Wie die Plattenfirmen mit der Durchsetzung der CD als vermeintlicher erster Gewinner solange versuchten, ihren Kunden alles, was diese schon auf analogen Schallplatten besaßen, deutlich teurer erneut zu verkaufen, bis sie erkennen musste, dass digitale Musik gar keine physischen Datenträger benötigt und schon im frühen Internet unbezahlt getauscht werden konnte, ist zentrales Element jeder Digitalisierungs-Geschichte. Seit Apple dann seine "iTunes" durchsetzte, entwickelte sich eine gewisse Zahlungsbereitschaft der Nutzer. Zwar wurden alte Wertschöpfungsketten umgepflügt. Doch würde etwa der Onlinejournalismus der Gegenwart sehr gerne auf eine ähnliche Zahlungsbereitschaft stoßen ...
Da wir hier bei evangelisch.de sind, stellt sich noch die Frage nach geistlicher Musik, "Ausübende Musiker, zum Beispiel Chorsänger sind ein wichtiger Teil unserer Kunden", sagt Janczukowicz: "Sie nutzen Idagio als Arbeitstool: um zu hören, wie verschiedene Interpretationen ihrer Stücke klingen." Solche Nutzungsgewohnheiten erforsche Idagio eher durch direkte Befragungen als durch Tracking. So hat Janczukowicz zum Beispiel herausgefunden, was die Kunden machen, wenn am Wochenende so zwischen 11.00 und 14.00 Uhr häufig die Nutzung ihren Höhepunkt erreicht: "Dann lesen viele eine Wochenzeitung und hören dazu Klassik."
Das ist ja in der Tat ein Vorzug instrumentaler, zumal klassischer Musik: Parallel lässt sich sehr gut etwas lesen – und so das strapazierte Medienzeit-Budget entspannt entlasten.