Das tagesaktuell aufschlussreichste Lehrstück, wie die sog. sozialen Medien funktionieren, betrifft eine "verkürzte Wiedergabe von Margot Käßmanns Aussage auf dem Kirchentag zur AfD" (evangelisch.de). Was durch Weglassen von Kontext daraus gemacht wurde, haben inzwischen auch die "Faktenfinder" von tagesschau.de in der Nüchternheit, die dieses ARD-Angebot tatsächlich sinnvoll erscheinen lässt, und Boris Rosenkranz bei uebermedien.de dann umso schärfer gegenüber "so genannten Journalisten wie Henryk M. Broder ('Die Welt') oder Roland Tichy" thematisiert.
Zum Käßmannschen Originalzitat lassen sich unterschiedliche Meinungen vertreten. Dass ein Ausschnitt daraus kalkuliert benutzt wurde, um Aufregung zu erzeugen, ist offensichtlich. "Manche Inhalte sollte man demnach aber auch rechtlich verfolgen", wird die Reformationsbotschafterin hier nebenan zitiert.
Wie überhaupt sich die Lage rechtlich darstellt und womöglich demnächst darstellen wird, also das geplante Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG), ist das große Thema dieser Tage. Die gestern hier zitierte Stellungnahme des gegebenenfalls am meisten betroffenen Netzwerks, Facebook, ist inzwischen rumgegangen. Komplett als PDF ins Netz gestellt hat sie netzpolitik.org Es ist "ein Lobbypapier, das Abgeordneten des Bundestags zugeschickt wurde" (Spiegel Online) und könnte tatsächlich entscheidend sein – allerdings nicht in die Richtung, die Facebook gerne hätte, findet ebd. Fabian Reinbold unter der Überschrift "Eigentor":
"Der Weltkonzern hat sich klein gemacht wie ein Start-up. Zurzeit kann es passieren, dass Nutzer, die auf Facebook aufs Übelste verleumdet werden, keinerlei Hilfe vom Konzern bekommen, ihre Rechte durchzusetzen. Manchmal tut Facebook so, als gelte für den Konzern nur irisches Recht (weil die Zentrale in Dublin sitzt) oder als verstehe man eine Klage nicht (weil sie auf Deutsch eingereicht wurde). Und immer wieder erklärt Facebook, man werde schon von selbst mehr tun - Hauptsache, es gibt keine Regeln von außen. Ohne ein Gesetz wird sich all das nicht ändern."
Der zitierte Text enthält zwei Links zu Belegen. "Aufs Übelste verleumdet" bezieht sich auf den Fall des Syrers Anas Modamani, der nach seiner Klage vorm Würzburger Landgericht (Altpapier, SPON) froh sein musste, dass Facebook ihm nicht noch die Gerichtskosten aufbürdete. Modamanis Anwalt Chan-jo Jun? hat sich zur aktuellen Lage auf Twitter geäußert:
###extern|twitter|cjun1005/status/869208066952232960###
Jun hält die Einwände für "Quatsch". Noch ein Tweet beleuchtet einen wichtigen Aspekt:
###extern|twitter|IfM_mediadb/status/869212932009320448###
Das schrieb das Institut für Medien- und Kommunikationspolitik, das Facebook ja längst in seiner Medienkonzerne-Liste (noch nur auf Platz 13) führt. Hans-Peter Siebenhaar, der "Medienkommissar" vom Handelsblatt, der durchaus glaubt, dass NetzDG-Erfinder Heiko Maas Facebooks Einwände "nicht von einfach vom Tisch wischen" könne, schreibt en passant, dass Facebook "längst ein digitales, werbefinanziertes Medienunternehmen" sei.
Constanze Kurz teilt bei netzpolitik.org viele der Kritikpunkte Facebooks am Gesetz, aber ebenfalls nicht alles, was Facebook beteuert:
"Auch wenn die Verhinderung und Bekämpfung von Hate Speech und Fake News eine staatliche Aufgabe ist, heißt das im Umkehrschluss noch nicht, dass ein wesentlicher kommerzieller Player im Markt der Meinungen und Berichterstattungen keinerlei Verantwortung dafür hätte. Die abstoßende Kultur, die in Teilen von Facebook vorherrscht, muss sich der Konzern auch selbst zurechnen."
Vielleicht hat Facebook, das außer mit Lobbyisten und Anzeigenverkäufern in Deutschland bekanntlich überhaupt nicht vertreten ist, um ja keine Verantwortung übernehmen zu müssen, die Situation falsch eingeschätzt.
[+++] Ein wichtiger und richtiger Kritikpunkt am Gesetz ist das Risiko, dass "im Zweifel Inhalte eher als heute gelöscht werden, die nicht eindeutig rechtswidrig sind" (wie ein Google-Lobbyistin im gestern hier verlinkten TAZ-Artikel zitiert wurde). Auch genau dafür poppt just ein Beispiel auf:
"Kann sich ein Nutzer wirklich wehren, wenn unberechtigt gelöscht wird? Der auf Social Media spezialisierte Mainzer Anwalt Stephan Schmidt sagt dazu: 'In der Begründung des NetzDG steht, dass der Nutzer geeignete rechtliche Schritte gegen eine unberechtigte Löschung oder Sperrung einleiten könne'. Dieser Punkt werde aber nicht genauer ausgeführt. Wörtlich heißt es in der Begründung nur: 'Niemand muss hinnehmen, dass seine legitimen Äußerungen aus sozialen Netzwerken entfernt werden.' Wenn nun ein Nutzer per Gericht Facebook nicht dazu zwingen könne, einen unberechtigt gelöschten Beitrags wiederherzustellen, Nutzer also keinen Rechtsschutz hätten, wäre das ein gewichtiges Argument gegen das Gesetz."
Allerdings könnte dieses Argument gegens Gesetz entfallen. Zumindest ist es aktuell einem Facebook-Nutzer bzw. dessen Anwalt gelungen, die Löschung eines Facebook-Posts rückgängig zu machen und ein joviales "Hallo, ein Mitarbeiter unseres Teams hat versehentlich einen Beitrag von Dir auf Facebook entfernt ... Es handelt sich dabei um einen Irrtum und wir möchten uns für diesen Fehler entschuldigen ..." zu erhalten. Das berichten die Funke-Zeitungen und die FAZ.
Beim Nutzer handelt es sich um den (von Funkes Fotomontage vermutlich kurz erschrockenen) Fotojournalisten Markus Hibbeler, der dafür eintrat, "den politischen Islam kritisieren zu können". Beim Anwalt um den aus mehreren Kontexten handfest umstrittenen Joachim Steinhöfel (siehe z.B. hier nebenan mit unmittelbarem Altpapier-Bezug). Ein Beleg dafür, dass Ansichten, die manche von weiter links für zu rechts halten, nicht unterdrückt werden, ist jedenfalls erbracht.
Kritik am NetzDG gibt es weiterhin in Fülle (zum Beispiel auch noch die, dass im Gesetzentwurf zu viele "juristische Laien ... den selbst für Strafrechtler komplizierten und zahlreiche unbestimmte Rechtsbegriffe implemetierenden Tatbestand der Volksverhetzung" bewertet hätten, wie der Leipziger Medienrechts-Professor Marc Liesching bloggte).
Aber vielleicht ist das Gesetz doch nicht ganz schlecht.
[+++] Nächstes Gesetz, genauso umstritten: das Wissenschaftsurheberrecht. Zur gestern hier verlinkten, wortgewaltigen FAZ-Kritik liegt nun auch eine ausführliche Gegenrede vor. Bei irights.info wendet Eckhard Höffner etwa das FAZ-Argument, dass "die Preisdiktate, die das Gesetz bekämpfen will, ...von drei internationalen Großverlagen" kommen, einfach um:
"Wenn aber die Hälfte der Produktion aus Unternehmen stammt, die mit Traumrenditen tätig sind, sind die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen nicht schwierig, sondern traumhaft gut."
Und dass "die Aufgabe des Urheberrechts" nicht darin liegt, "als versteckte oder mittelbare Subvention für Verlage zu wirken", sondern "in erster Linie darin, die Urheber zu unterstützen", leuchtet auch ein.
Eine um Objektivität bemühte Gegenüberstellung der kurz vor der Abstimmung wie immer krassen Positionen ("Auf Nachfrage ... beziffert der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger ... die möglichen Verluste infolge von verminderten Einnahmen auf eine niedrige achtstellige Summe im Jahr") hat Christian Meier für Springers welt.de geschrieben. Bemerkenswert ist das auch vor dem Hintergrund, dass Springers Bild-Zeitung, die von Wissenschaftern in Bibliotheken (hoffentlich!) selten nutzen, passgenau zur gestrigen "ersten Experten-Anhörung" kräftig Position bezog – gegen den ebenfalls federführenden Minister Maas und mit einem Originalzitat des noch/ wieder unentschiedenen CDU-Haudegen Volker Kauder.
Die Anhörung fasst der dabei angehörte Leonhard Dobusch bei netzpolitik.org zusammen. Es bleibe "spannend".
[+++] Eins ham wir noch, ein Gesetz. Es ist wieder ein anderes, diesmal europäisches, bloß die deutschen Akteure sind dieselben.
Die FAZ publiziert einen Offenen Brief auf Englisch, den über 30 europäische Verlage unterzeichneten. Gegen solche ungelenken Positionen an polemisiert wieder das digitalaffinere netzpolitik.org ("... singen sie nicht nur das immergleiche Lied von den großen Internetkonzernen, die von dieser Regelung profitieren würden, sondern wehklagen auch, dass die neue Selbstbestimmung der Leser über ihre Daten den Journalismus an sich gefährde"). Nun geht's um die "ePrivacy-Verordnung" und das Tracking von Internetnutzern, durch das die Verlage ihr Restgeschäft mit Onlinewerbung – das zwar im Vergleich mit Googles und Facebooks Einnahmen ein bescheidenes ist, aber das wichtigste, das die Verlage digital haben – retten möchten.
[+++] Umso schöner, dass wir den öffentlich-rechtlichen Rundfunk haben. Auch da gibt's noch zweierlei überm Strich zu erwähnen: Erstens antizipiert Claudia Tieschky auf der SZ-Medienseite schon mal die "heftige Legitimitätsdebatte" in die dieser geraten werde, "wenn 2021 der Rundfunkbeitrag steigt, was als sicher gilt". Dafür hat sich eine Frühaufsteher-Lobby mit einem eigenen Lobbypapier schon mal positioniert: Die Produzentenallianz, "der 240 Firmen angehören", adaptiert das wenn nicht am Markt, dann doch bei Parlamentariern immer wieder erfolgreiche Rezept der Verlage-Lobby und
"fürchtet um die Bedeutung der Öffentlich-Rechtlichen für die 'Sicherung der Demokratie in der digitalen Welt gerade auch mit Blick auf die Marktmacht von internationalen Großkonzernen'".
Die Film- und vor allem Fernseh-Produzenten wollen halt, dass die Öffentlich-Rechtlichen weiterhin mindestens so viele hunderte Krimis und Schmonzetten ausstoßen können wie bisher.
Und "apropos Erhöhung" knüpft Michael Hanfeld auf der FAZ-Medienseite nahtlos an: "Wenn wir es richtig sehen ..., sind die Intendantenprogrammkosten in den vergangenen vier Jahren, seit der Einführung des neuen Rundfunkbeitrags, der nicht mehr an Empfangsgeräte gebunden ist, um rund zehn Prozent gestiegen". Das bezieht sich aufs bei faz.net veröffentlichte, vom EPD errechnete
Ranking der bestverdienenden Intendanten.
Wer Hanfeld deshalb gleich wieder für pauschal anti-öffentlich-rechtlich hält, tut ihm Unrecht, wie der ebenfalls auf derselben Seite stehende Artikel (45 Cent bei Blendle) mit der Unterüberschrift "Der Sender Arte wird 25: Schaut noch jemand hin?" zeigt.
Das ist wieder ein klassischer Hanfeld, der in laangen Sätzen ("Mit Donald Trump, das versteht inzwischen jeder, ist internationale Politik, die auf etwas anderem beruht als dem schieren Schielen nach dem nationalen Vorteil, nicht zu machen – wobei ..."), aber in einer Spalte aktuelle politische Ansichten mit einer fundierten Geschichte des deutsch-französischen Kulturkanals und einem Programmhinweis verknüpft. Was Arte und die empfohlene Sendung angeht, schreibt er schließlich:
"Aktuell, gutes Timing, auf der Höhe der politischen Debatte: Das Programm von Arte kann sich auch am Jubiläumsabend sehen lassen. Man muss nur hinschauen."
+++ "Gerade jetzt verliert der Sender", also Arte, "seine Identität, weil er am großen Dokumentarfilm spart", schreibt der Dokumentarfilm-Regisseur und -Produzent Arne Birkenstock in einem TAZ-Gastbeitrag. +++ Die FAZ-Medienseite empfiehlt übrigens noch eine weitere "erhellende Dokumentation" bei Arte heute: "Unter Fremden – Eine Reise zu Europas Neuen Rechten" um 22.20 Uhr. +++ Um den Dokumtarfilm "Auserwählt und Ausgegrenzt - Der Hass auf Juden in Europa", der wohl nicht bei Arte laufen wird, obwohl er es sollte (Altpapier), geht es in einem ausführlichen epd medien-Artikel, der inzwischen frei online steht. +++
+++ Der Guardian wertet weiterhin seine Facebook-Files aus und befragte z.B. einen "underpaid and overburdened" Facebook-"Content Moderator" bzw. Putzmann. +++ Über Facebooks in den USA verfügbare Crowdfunding-Funktion informiert Michael Moorstedt bei sueddeutsche.de: "Es ist also zu erwarten, dass man von seinen Facebook-Freunden schon bald nicht nur um Gefällt-mir-Angaben angebettelt wird, sondern auch um Geld." +++
+++ Auf der SZ-Medienseite schreibt Hans Hoff heute über die erste Folge der ARD-Facebook-Sendung "Sag's mir ins Gesicht!" (AP gestern): Kai Gniffke habe es "immer wieder geschafft, das jeweilige Gegenüber befriedet aus der Debatte zu entlassen. ... Ein bisschen wirkte die ganze Aktion wie der Versuch, die Probleme des Internets mit den Mitteln des Fernsehens zu lösen; sie fügt sich ein in eine Reihe von Unternehmungen der ARD, sich durch öffentlichkeitswirksamen Umgang mit Kritik ein bisschen zu profilieren." +++
Und weil die ARD online dazu neigt, ihre Selbstbespiegelung auf 360 Grad auszudehnen, hat faktenfinder.tagesschau.de zur Gniffke-Folge eine Psychologin interviewt, tagesschau.de selbst zur gestern gesendeten Anja-Reschke-Folge indes Anja Reschke. +++
+++ "Nun sind Journalisten nicht unbedingt gute Verleger, vice versa gilt das sogar verstärkt. Dennoch ist Anneliese Friedmann ..." (Chefredakteur Kurt Kister auf der SZ-Medienseite zum 90. Geburtstag der Verlegerin, die ihre Anteile am Verlag niemals versilbern wollte – und einst als Volontärin zur SZ kam). +++
+++ Kaum will sich die Bundesregierung womöglich ein wenig von den USA, wie sie gerade sind, abnabeln, kommt die "Grundausbildungs-Dokusoap der Bundeswehr" (Altpapier 2016) ins lineare Fernsehen. "Die Wahl fiel letztlich wohl vor allem deshalb auf RTL II, weil der Sender ein sehr junges Publikum anspricht" (dwdl.de). +++
+++ "Jedes Jahr verkauft Bauer in Polen mit mehr als 30 Titeln rund 300 Millionen Exemplaren. Die Hamburger besitzen hier fünf der zehn der meistverkauften Titel. Wichtig ist für Bauer auch das Druckgeschäft in Polen. Das Unternehmen druckt dort nicht nur Zeitschriften für den polnischen Markt, sondern auch für Deutschland. Bauer spart hierdurch deutlich an Produktionskosten, weil das Lohnniveau der Drucker in dem osteuropäischen Land erheblich niedriger als hierzulande ist": Da dreht meedia.de die gestern hier verlinkte Tagesspiegel-Meldung über die polnischen Medien-"Repolonisierungs"-Pläne weiter. +++
+++ Eine der aufschlussreichsten Reihe, was das Themenfeld Kultur im Fernsehen angeht, heißt "Deutschland, deine Künstler" und läuft in loser Folge in der ARD. Den Film über Claus Peymann hat Philipp Greifenstein gesehen und bebloggt. +++
+++ "Das Kind schreit nach der Milch der Mutter und der Liebe der Mutter, aber es hat mit Sicherheit keinen Durst nach Smartphones": Die Warnung der Bundesdrogenbeauftragten Marlene Mortler (CSU) vor "unkontrollierter Nutzung digitaler Medien" gehört natürlich auch hierher. Siehe z.B. Tagesspiegel. +++
+++ Falls Sie aber jetzt noch etwas richtig, äh Konstruktives lesen wollen, wäre da die NYT-Geschichte über den Erfolgs-Newsletter "Wake Up to Politics" des Teenagers Gabe Fleisher. +++
Neues Altpapier gibt's dann wieder am Mittwoch.