Unter den vielen, vielen Interviews, die der „einzige in Deutschland lebende Kriminologe aus Niedersachsen“, also Christian Pfeiffer, in den vergangenen Jahren gegeben hat, gibt es gewiss nicht wenige, die man nicht unbedingt als bereichernd bezeichnen kann. Anderes verhält es sich nun mit einem Gespräch, das wdr.de aus alleraktuellstem Anlass geführt hat:
„Die Sexualmorde in Deutschland haben seit Mitte der 1980er Jahre von 50 auf fünf im Durchschnitt abgenommen. 90 Prozent Rückgang dieses grauenhaften Deliktes. Und das parallel zu einem ständigen Anstieg von ‚Fremden‘ im Land. Da merkt man doch, dass die Schnellschuss-Analysen, die im Internet durch wenig informierte Menschen zu finden sind, einfach der Komplexität dieser Vorgänge gar nicht gerecht werden.
Ob jene, die derzeit schnell schießen, langsamer oder gar nicht schössen, wenn sie wüssten, was Pfeiffer weiß, ist natürlich eine andere Frage. Warum polizeiliche Statistiken „untauglich“ seien, „um die Kriminalität von Deutschen und Ausländern zu vergleichen“ (man kann hier durchaus Journalisten als Adressaten der Äußerung mitdenken), erläutert Pfeiffer dann auch noch.
Apropos Statistiken: Margarete Stokowski weist in ihrer Spiegel-Online-Kolumne auf eine Ende November vorgestellte Studie „zu Gewalt in Partnerschaften“ hin:
„2015 wurden in Deutschland 331 Frauen von ihrem Partner getötet: Das ist fast jeden Tag eine Frau. Würde man die Meldungen darüber jedes Mal in die Abendnachrichten einbauen, würden wir denken, wir leben in einem Land, in dem Gewalt gegen Frauen eine wahre Epidemie ist - und es würde stimmen. Jedes vierte Mal würden wir dabei hören, dass außerdem auch ein Mann von seiner Partnerin getötet wurde (84 im Jahr 2015) (…) Dem BKA-Bericht wurde ein kurzer Beitrag gegen Ende der ‚Tagesschau‘ gewidmet. Hätte es einen Aufschrei gegeben, wenn er nicht vorgekommen wäre? Wahrscheinlich nicht.“
Mit dem Themenkomplex Mord in Freiburg befasst sich auch Peter Breuer in einem Kommentar für Übermedien - Anlass ist ein von „sprachlicher Unschärfe und genervter Schnoddrigkeit“ geprägter Text des „Monitor“-Chefs Georg Restle, der die Entscheidung der „Tagesschau“ erklären will, aufgrund seiner Formulierungsinsuffizienz aber das Gegenteil dessen erreicht, was er vermutlich zu erreichen versucht.
Der wichtigste Beitrag zum Thema stammt von Tagesspiegel-Chefredakteur Lorenz Maroldt. In einem Kommentar für Radio Eins sagt er, der Stern und andere hätten sich „zum willigen Helfer“ der Deutschnationalen gemacht. Man dürfe sich nicht die Argumentation jener zu eigen machen,
„die angekündigt haben - wörtlich -, Mainstream-Journalisten mit Mistgabeln aus ihren Redaktionsstuben zu vertreiben, und berichten, was sie hören wollen“.
Es sei, so Maroldt in seinem teilweise erst während des Sprechens ausformulierten Kommentars weiter,
„verheerend, wenn Journalisten ihren Kompass über Bord werfen und Reaktionen von Krawallbürgern auf ihre eigene redaktionelle Entscheidung antizipieren, dann lassen sie sich nämlich treiben von Menschen, die in einer totalen Nachrichtenblase leben.“
Die vielleicht wichtigste These, die der Tagesspiegel-Mann formuliert, lautet, dass sich freie Berichterstattung ja vor allem dadurch auszeichne, dass sie
„sich eben an der Sache orientiert, unabhängig von politischen Erwartungsbegehren des Publikums“.
[+++] Es ist nicht verkehrt, sich nach dem Hören von Maroldts Kommentar mit einem offenbar in recht kurzer Zeit entstandenen Rant Michael Seemanns (mspr0.de) zu befassen. Auch wenn der aus einem ganz anderen Grund entstanden zu sein scheint. Seemann schreibt
„Wir haben kein Problem mit der Unfreiheit des Bürgers. Dem Bürger geht es gut. Der ist so frei wie niemals zuvor! Trotz NSA. Trotz Google und Facebook. Nein, halt. Das Gegenteil ist der Fall! Gerade durch Google und Facebook! Durch das Internet. Ihr erzählt alles falsch herum. Der Bürger wurde durch das Internet ermächtigt, nicht geschwächt. Er wurde immer mächtiger und mächtiger. Er wurde zum Monster.“
Beziehungsweise:
„Der Wutbürger ist los! Und das Internet hat ihn entfesselt. Und wir – die Netzpeople – wollten das so. Erinnert euch: wir kämpften für freie Vernetzung, Abbau aller Hierarchien, für dezentrale Machtverteilung, alternative Medien, Gegenöffentlichkeiten und feierten den Tod des Gatekeepers. Zehn Jahre ist das erst her.“
Und was bekamen „wir“ stattdessen? „Eine weltweite Bewegung der desinformierten Wutbürger“. Tja, wie wäre es also (siehe auch mein Kommentar zum Maroldt-Kommentar), wenn sich Journalisten auf die Stärken besinnen, die sie mal hatten, als sie noch Gatekeeper waren?
[+++] Zu den kritischen Reaktionen auf die „Bomben-Geschichte“ (Altpapier) in Sachen Big Data und Trump-Sieg kommt u.a. eine von Sascha Kösch hinzu, verfasst für das auch nach dem Dahinscheiden des gedruckten Magazins de:bug zumindest sporadisch noch bestückte de-bug.de:
„Wer Big Data und Wahlen auch nur mit einem halben Auge in den letzten Jahren verfolgt hat, der wird wissen, dass selbst Obama schon höchst präzise Informationen über einzelne Wähler hatte, die sogar in eine App gegossen waren, mit der ausgestattet die Wahlkämpfer an Türen klopfen konnten und damit wussten, was die Vorlieben des jeweils angesprochenen potentielle Wählers waren, um so ihre Strategie, diese Person zur Urne mit der ‚richtigen‘ Entscheidung zu treiben, mit genau den richtigen Worten optimieren zu können. Feedback inklusive. Kommt euch bekannt vor? Ja, es ist genau das, was später im Artikel als radikal beschrieben und als irgendwie genuine Neuigkeit von Cambridge Analytica präsentiert wird.“
Außerdem erwähnt er diverse
„Dinge (…) die einen irgendwie aufhorchen lassen, ob da nicht jemand dem logischerweise kapitalförderndem Größenwahn einer Firma aufgesessen ist, nur um dies dann, als Gefahr für den eher kulturell geneigten Konsumenten verkleidet, weiterzuverkaufen".
„Viele Stellen des Textes über die angebliche Macht von Cambridge Analytica sollten den Leser ins Zweifeln bringen“, meint derweil Spiegel Online, während der „Zündfunk“ (BR )Hannes Grassegger, einem der Autoren des angegriffenen Textes, die Gelegenheit gibt, auf die Kritik zu reagieren:
„Wir sind absolut überrascht und angetan, dass die Leute so auf das Thema einsteigen. Wir begrüßen wirklich jede Form des Weiterdenkens - und dazu gehört natürlich auch Kritik“,
sagt Grassegger, der, wen wundert’s?, auch Dinge erwähnt, die „übersehen werden von den Kollegen, die jetzt mitdebattieren“.
[+++] Dass Frauenzeitschriften bei der Berichterstattung über Medikamente die „Grenze zur Schleichwerbung“ sehr oft überschreiten, mag kein allzu überraschendes Rechercheergebnis sein. Damit soll aber keineswegs ein abwertendes Urteil über die Arbeit gefällt sein, die Jörg Römer und Nina Weber für Spiegel Online geleistet haben:
„Eine Analyse (…) von jeweils fünf Ausgaben 13 verschiedener Zeitschriften zeigt, dass sich in etwa zwei Drittel aller Fälle zu den Produktnennungen geschaltete Anzeigen gesellen - entweder im selben Heft, einer anderen Ausgabe oder einem anderen Titel desselben Verlags. Beim Bauer- und beim Funke-Verlag ist das sogar bei 87 Prozent der Fälle so. Dagegen liegt Burda mit 50 Prozent klar unter dem Durchschnitt.“
Eine Whistleblowerin hat man auch gefunden:
„Der Bauer-Verlag, mit seinem Milliardenumsatz eines der größten Verlagshäuser weltweit, hat eine Poolredaktion gegründet, die mehrere Zeitschriften mit Gesundheitstexten bestückt. Stefanie Krüger (Name von der Redaktion geändert) ist dort Redakteurin, sie bestätigt, dass regelmäßig gezielt Produkte in Artikeln platziert werden (…) Für die Nennung ihres Produkts würden die Unternehmen im Gegenzug Anzeigen buchen. ‚Mit redaktioneller Arbeit hat das nichts zu tun‘, sagt sie. Krüger berichtet von einzelnen Redakteuren, die nur für Werbetexte abgestellt werden. Bereits in den täglichen Morgenkonferenzen würde festgelegt, welche Produkte in einem Text erwähnt werden müssen. Ein Planungsdokument, das Spiegel Online vorliegt, stützt diese Vorwürfe.“
Man hätte aber bis vor kurzem auch nicht gedacht, dass man die beschriebene Form der Korruption mal als relativ kleines Problem ansehen wird - verglichen damit, dass sich Journalisten heute die Argumente jener zu eigen machen, die mit „Mistgabeln“ (siehe oben) auf sie losgehen wollen, ist es jedenfalls eines.
[+++] Im Spiegel-Reich haben sie immer mal wieder das Pech, dass die Aufmerksamkeit für Recherchen des eigenen Hauses überlagert wird von spiegelesken Personalien. Dafür sorgt nun die „Abberufung“ von Florian Harms als Spiegel-Online-Chefredakteur und die Neuberufung von Barbara Hans - womit, so die SZ, der Verlag "die vom Branchendienst Horizont losgetretenen Personalspekulationen beendete“ (siehe auch dieses und dieses Altpapier).
Der Tagesspiegel geht auf die zuletzt zu vernehmenden Solidaritätsbekundungen der Redaktion für Harms ein - und bemerkt diesbezüglich:
„Rückhalt bei der rund 160-köpfigen Redaktion, aber kein Rückhalt bei der SpOn-Geschäftsführung und im Spiegel-Verlag? So muss der Wechsel wohl gelesen werden.“
Ulrike Simon, also jene Augurin, die von Anfang an wusste, wie’s ausgehen wird, schreibt bei horiziont.net:
„Der Aktionismus jener, die hier eine Unterschriftenliste und dort eine anonyme Solidaradresse für das Mittel der Stunde hielten, verfehlte seine Wirkung. Die Gesellschafter des Spiegel-Verlags haben den seit Wochen schwelenden Konflikt entschieden. Zuletzt ging es nur noch um die Frage, wie hoch Harms‘ Abfindung ausfällt.“
Karoline Jacquemain (Hamburger Abendblatt) hat mal reingehorcht in den Laden:
„Während manch einer schon vor der Verkündung von Harms' Abgang von Ambitionen seiner Nachfolgerin sprach, bei Gelegenheit eine Stufe nach oben zu rücken, ist Hans im Haus nicht unbedingt als lautstarke Meinungsmacherin bekannt.“
Dass Hans „die erste Frau an der Spitze von Spiegel Online“ verknüpft Jacquemain am Ende mit der Nachricht, dass bei süddeutsche.de mit Julia Bönisch ebenfalls eine Frau nach ganz oben aufrückt. Anne Fromm (taz) geht darauf ebenfalls ein. Und was sagt Pro Quote? Von der Vereinsvorsitzenden Maren Weber ist zu vernehmen:
„ProQuotes wiederkehrende Appelle, Frauen in Führungspositionen zu berufen, wirken wie Steigbügelhalter, ins Ziel reiten müssen die Frauen dann selber. Hans‘ und Bönischs Performance war reif für den Olymp.“
Diese krude Metaphorik ist nun wirklich zu kaum zu toppen. Dass Journalistenorganisationen nicht in der Lage sind, sprachlích halbwegs annehmbare Mitteilungen zu formulieren, kann man auch durchaus besorgniserregend finden.
Altpapierkorb
+++ „Mittlerweile erreichten die Redaktion pro Tag durchschnittlich 200 Kommentare per Mail, 2000 Kommentare bei tagesschau.de, 8000 Posts via Facebook sowie eine Programmbeschwerde, mit der sich der Rundfunkrat befassen müsse“ - der Tagesspiegel gibt mit Unterstützung von epd und dpa Kai Gniffkes Begründung dafür wider, warum bei der „Tagesschau“ künftig ein „Qualitätsmanager“ im Einsatz sein wird.
+++ Ausführliches zu den am vergangenen Mittwoch erwähnten Digitalabo-Zuwächsen der New York Times gibt es bei Poynter.
+++ Über aktuelle und möglicherweise bevorstehende Fusionen und Zukäufe in der US-Medienbranche berichtet die Medienkorrespondenz. Einen Überblick über ausgewählte Serien, die im diesem Herbst in den USA gestartet sind, liefert der Text auch. Unter anderem findet die im Altpapier bereits vorgekommene Serie „Designated Survivor“ Erwähnung.
+++ Ist der Zuschauer „hinterher klüger? Keine Frage – ja.“ Das schreibt Robert Birnbaum im aktuellen Tagesspiegel über „Angela Merkel: die Unerwartete“ (Erstausstrahlung gestern, Wiederholung in der ARD am kommenden Montag), gedreht von Matthias Schmidt und Torsten Körner, der im Altpapier ja sonst als schreibender Kollege vorkommt. Dass „da noch viel mehr zu erzählen gewesen wäre“, meint Birnbaum auch noch. Aber für welches Porträt träfe das nicht zu?
+++ Matthias Hannemann schreibt auf der FAZ-Medienseite über den ARD-Mittwochs-Film: „Als Ulla Hahn 2009 die Fortsetzung ihres autobiographisch gefärbten, im Rheinland der fünfziger Jahre angesiedelten Romans ‚Das verborgene Wort‘ herausbrachte, erzählte sie in einem Verlagsinterview, ihr sei während der Arbeit an dem neuen Buch über die frühen sechziger Jahre 'klargeworden, wie versunken diese Zeit ist (…)' Die Verfilmung des Romans 'Aufbruch', für die abermals (wie schon die preisgekrönte Verfilmung des ersten Bandes) Hermine Huntgeburth und Volker Einrauch sorgen, versteht das als zentralen Auftrag: die Übergangsjahre zwischen den muffigen Fünfzigern und Achtundsechzig in Erinnerung zu rufen – einschließlich des rheinischen Dialekts.“ Von einer „Ulla-Hahn-Verfilmung mit einigen Makeln“ spricht das Hamburger Abendblatt.
+++ „Das also stellt man sich bei Sat 1 unter Geborgenheit vor: ein Frauenbild wie aus den Fünfzigerjahren, nur mit Internet und lustigeren Berufen.“ Unter diesem Aspekt fasst Karoline Meta Beisel für die SZ die „Filmhöhepunkte“ zusammen, die Sat 1 für die „kalten ersten Monate des Jahres“ zusammengestellt hat.
+++ Außerdem auf der SZ-Medienseite: Willi Winkler würdigt John Godfrey Morris, einen der maßgeblichen Bildredakteure in der Geschichte des US-Journalismus. Der wird heute 100 Jahre alt. „1972, als sich Richard Nixon zur Wiederwahl stellen wollte und auch deshalb begonnen hatte, die Häfen im nordvietnamesischen Hanoi zu verminen, lief dem Fotografen Nick Út das neunjährige Mädchen Phan Thi Kim Phúc vor die Kamera. Es floh vor dem Luftangriff, den südvietnamesische Bomber auf ihr Dorf geflogen hatten (…) Es ist das verheerende Napalm, mit dem auch das Mädchen verbrannt worden ist, weshalb es sich die brennenden Kleider vom Leib gerissen hatte. Noch heute kann diese Nacktheit so schockieren, dass Facebook das Bild sperren lässt.“ Hätte Morris nicht dafür gesorgt, dass dieses Foto auf die Seite 1 der New York Times kommt, hätte es die bekannte Wirkung vielleicht nie entfalten können.
+++ Im "Tagebuch" der aktuellen epd-medien-Ausgabe würdigt Altpapier-Autor Christian Bartels die vom Hamburger Medienwissenschaftler Hans-Jürgen Krug produzierte Radio-Collage „Radio in Wittgenstein und im Hinterland“: „Eine der Überraschungen dieses Stücks, das kürzlich beim Lokalsender Radio Siegen gesendet wurde, besteht darin, dass es keineswegs die jüngeren Mediengattungen Fernsehen oder Internet waren, die am Nimbus der Lokalzeitung kratzten, sondern eben das Radio. Wie dieses Medium sowohl in den nach 1945 neu geschaffenen Bundesländern als auch in den durch Gemeindereformen der 1970er Jahre größer gewordenen Landkreisen wie etwa Siegen-Wittgenstein zur Identitätsbildung beitrug, macht das Hörstück schön deutlich: Peter Frankenfeld oder Heinz Schenk tourten mit der Morgen-Livesendung ‚Frankfurter Wecker‘ (HR) durch die Provinz, später kam der WDR mit ‚Hallo Ü-Wagen’ bis ins Wittgensteiner Land. In dieser peripheren Region Nordrhein-Westfalens und im benachbarten Hinterland (das historisch wirklich so heißt) rund ums hessische Biedenkopf bekamen Lokalzeitungen dadurch journalistische Konkurrenz, dass sich die Radiostudios regionalisierten.“
+++ Und wie die am späten Montagabend gesendete ARD-Reportage „Wir Sklavenhalter – Ausbeutung in Deutschland“ war, habe ich für die Medienkorrespondenz aufgeschrieben.
Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.