Donnerstag ist Spiegel-Tag

Donnerstag ist Spiegel-Tag
Ob Erstverkaufstag oder Sperrfristen: Terminvereinbarungen sind für die Hatz. Kriegsgeschrei der passende Hintergrundton zum Distanzverlust der Medien. Außerdem: Glückliche Münchner, Presseausweise (und kontextsensibel geschaltete Onlineanzeigen dafür), ein Magazin wie Simone de Beauvoir.

Zeitungen und Zeitschriften halfen der Generation Totholz nicht nur, das Geschehene zu überblicken und einzuordnen. Sondern verrieten dem Leser auch ganz banal, bereits bevor man auch nur ein erstes Wort gelesen hatte, welcher Tag der Woche gerade anstand. Montag war, wenn der neue Spiegel vor einem lag. Den Donnerstag zeigte der Stern an. Und für die glücklichen Münchner begann das Wochenende mit einer besonders dicken, blau eingefärbten Abendzeitung. Tempi passati. Im Rückzugsgefecht mit den Onlinemedien, beim Experimentieren mit der Formel aus weniger Kosten und mehr, oder zumindest unverändert viel Aufmerksamkeit wurden erst einmal viele traditionell bewährten Erscheinungstage durcheinander gewürfelt. Und selbst diese stehen inzwischen oft nurmehr auf dem Papier. 

Die Bunte erschien zwar letzten Donnerstag wie gewohnt – aber mit einem noch lebenden Altkanzler („Drama um Helmut Schmidt“). Wer ist denn bitte auch so unprofessionell, nach Redaktionsschluss zu sterben? Also wurde flugs nachgedruckt und eine aktualisierte und vor allem kostspielige Neuauflage eingeschoben („Helmut Schmidt † Abschied“). 

Nach den Pariser Ereignissen – oder vielmehr mittendrin – ließ sich der Stern nicht die übliche Zeit, um diesen Donnerstag darüber zu berichten, sondern hetzte bereits mittwochs an den Kiosk. Und ein Nachrichtenmagazin aus Hamburg erschien heute, und damit sogar zwei ganze 48 Stunden vor dem Erstverkaufstag.

„Interessante Zukunftsperspektive: Der Spiegel erscheint an keinem bestimmten Tag mehr - sondern, dann, wenn es etwas zu berichten gibt.“,

twitterte Claudius Seidl von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung daraufhin.

Sind das bereits Extrablätter – oder nur extra hastige? Wenn Chinesen jemandem mißgünstig gesinnt sind, wünschen sie ihm angeblich bewegte Zeiten. Da geht sogar Journalisten schon einmal das Maß aller Dinge verloren. „Krieg: Ein Wort im Sinn des IS“ titelt das Medienmagazin "Zapp" und sieht eine Linie in der Rhetorik, die nicht nur 9/11 und Paris verbindet, von Bush zu Hollande reicht, sondern bis in die Redaktionen, die beim Buhlen um die größtmögliche Aktualität jede Distanz zu verlieren scheinen und so vielleicht „das Kalkül der Terroristen erfüllen“.  Die Politologin Ulrike Guérot wünscht sich in "Zapp" von Journalisten: „Wir bleiben hier ruhig. Wir lassen uns nicht aufstacheln, anheizen, hysterisch machen. Das ist ja das Schwerste: ruhig zu bleiben.“ 

Zur Verunsicherung tragen selbst Details bei, wie Michael Hanfeld heute in der F.A.Z. (online ähnlich) anmerkt:

„Die Sportmoderatorin Katrin Müller-Hohenstein steht schon im sicheren ZDF-Studio von Hannover, in dem sie, wie Claus Kleber dramatisch sagt, ‚Zuflucht’ gefunden hat.“

Auch Heribert Prantl fordert im Leitkommentar der Süddeutschen Zeitung, einen kühlen Kopf zu wahren und verbal abzurüsten:

„Die Register der Angst werden nicht nur von Terroristen gezogen, sondern von Politikern, Publizisten und sozialen Netzwerkern.(…) Das Fußballspiel wurde zur Demonstration für die Freiheit aufgeblasen; ohne diese Aufblaserei wäre die Absage leichter gefallen. Die banalsten Dinge wie der Besuch im Café werden zum Bekenntnisakt für „unseren Lebensstil“ stilisiert. Solche vermeintliche Unerschrockenheit leugnet die Angst nicht nur, sie reproduziert sie. Helmut Schmidt hat 1977, im Jahr der RAF-Verbrechen, den 'kühlen Kopf trotz unseres Zorns' gefordert; das ist schwer. (…) Und es ist heute nicht Ausdruck eines kühlen Kopfes, wenn von einer Kriegserklärung der Terroristen und von einem Frankreich im Kriegszustand geredet wird.“

Gar nicht viel zu reden, mag da beherrscht wirken, aber vielleicht auch ein Irrweg sein. Thomas de Maizières Angst, mit zu viel Information die Bevölkerung zu verunsichern, mündet schnell in einem Mem mit dem Hashtag #DoltLikeDeMaiziere. Detlef Esslinger von der Süddeutschen Zeitung reagiert auf Twitter irritiert:

„Von allen Fehlern, die #deMaiziere machen konnte, war dies wohl der geringste. Warum immer gleich Spott wie in #DoItLikeDeMaiziere?“

Die Antwort weiß seine Redaktionskollegin Kathrin Hollmer:

„Lacht! Sonst haben die Terroristen gewonnen.“

[+++] Zum Weinen ist dagegen eher, wie mit der Pressefreiheit umgesprungen wird, wenn sich die besorgten Bürger versammeln. Bei einer AfD-Demo widerfuhr der Magdeburger Volksstimme Wunderliches:

„Als ein Reporter der Volksstimme mit einem AfD-Demonstranten aus Magdeburg sprach, ging ein Ordner dazwischen. Er fotografierte den Reporter erst mit seinem Handy und führte den Magdeburger Rentner dann weg und sagte: ‚Wir reden nicht mit der Lügenpresse‘. Als der Volksstimme-Reporter später fragte, warum er das Gespräch unterbunden habe, sagte der Ordner: ‚Das ist ein freies Land. Ich muss das nicht begründen.’“

Dialektischer geht dagegen Lutz Bachmann mit der Lügenpresse herum. Er nutzt selbst gern einen sogenannten Presseausweis des Deutschen Fotojournalisten-Verbands, etwa bei  Zugangskontrollen im Landgericht Dresden, wie Lars Radau als erster berichtete. "Zapp" kürte Bachmann dafür gestern zum „Presselügner der Woche“ und wies daraufhin, daß der ausstellende Verband den Ausweis nicht mehr verlängern wolle.

Den drohenden Mitgliedsverlust weiß der DFJ e.V. zu parieren: Anfang der Woche schaltete er via Google Ads eine Anzeige auf sueddeutsche.de, um neue Abnehmer für seinen sogenannten Presseausweis zu finden. („Mit diesem kommen Sie in den Genuss zahlreicher Vorteile, unter denen vor allem vergünstigter Zugang zu Veranstaltungen zu nennen wäre.“)


Altpapierkorb

+++ Man möchte gar nicht wissen, wie Reichsbürger die Ereignisse dieser Tage einschätzen. Aber Xavier Naidoo kann sich zumindest über für ihn positive Nachrichten freuen: Er darf Deutschland (oder die Deutschland-GmbH?) beim nächsten Eurovision Song Contest vertreten, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung quasi exklusiv meldet: „Der Titel, mit dem er am 14. Mai 2016 in Stockholm auf die Bühne geht, soll am 18. Februar 2016 im ersten Programm in der Show ‚Unser Song für Xavier‘ von den Zuschauern per Abstimmung ermittelt werden.“ +++ Imre Grimm vom RedaktionsNetzwerk Deutschland wußte offenbar auch davon und reagiert via Twitter irritiert auf die Kollegen: „Das hat man nun davon, dass man sich an Sperrfristen hält“. +++

+++ Die F.A.Z. berichtet vom „Mediendisput“ in der Landesvertretung von Rheinland-Pfalz in Berlin und zitiert Christian Neef vom Spiegel, der davor warne, „Objektivität mit Mutlosigkeit zu verwechseln. Es reiche nicht aus, etwa beim Abschuss des Passagierflugzeuges MH17 über der Ukraine konträre Positionen zu zitieren, irgendwann müsse man auch eine Position vertreten.“ +++

+++  Die französische Elle feiert am 21. November ihren 70. Geburtstag. Während die deutsche Lizenzausgabe als monatliches Glossy für die Besserverdienenden nur ein trüber Abklatsch ist, bedient das Pariser Original Woche für Woche die Frauen mit einem aktuellen Mix aus Nachrichten, Kultur, Mode und weiblichem Selbstbewusstsein. Pascale Hugues schreibt dazu heute in der Süddeutschen Zeitung: „Finanzielle Unabhängigkeit! Arbeit! Die Freiheit, selbst über das eigene Leben zu bestimmen! Recht auf Scheidung! Verhütung! Gleichheit von Männern und Frauen! Mit diesen Schlagwörtern verbreitet die Elle die Ideen von Simone de Beauvoir. Ein Teil der Intelligenzija spottet zwar darüber, dass ein Frauenmagazin so frech ist, sich mit gesellschaftspolitischen Themen zu befassen – aber die Elle wird alle Emanzipationskämpfe der Französinnen begleiten.“ +++

+++ Nach ihrem Überraschungserfolg in den USA kommt die „ambitionierte Serie“ (so Der Freitag) „Deutschland 83“ jetzt ab 26. November auch hierzulande auf RTL zur Ausstrahlung. +++ Der Spiegel freut sich, wie viel Zeit sich das Coming-of-Age-Drama nähme, „um Produkte, Musik und Phänomene der frühen Achtzigerjahre mit Leichtigkeit und Ironie in die Handlung zu integrieren.“  Und dreht Produzent Nico Hofmann daraus einen Strick: „Um zu den ganz großen Vorbildern aufzuschließen, zu ‚Homeland‘ oder ‚Mad Men‘, fehlen die fiktionale Freiheit und der Mut, eine eigene Wahrheit zu entwerfen.“ +++ Die Zeit zitiert Hauptdarsteller Jonas Nay: „Mit Deutschland 83 hätten sie etwas umgesetzt, was sie aus den USA kennen, 'aber von dem ich nie geglaubt hätte, dass wir es auch können'.“ Deutscher Plot, amerikanische Machart: Die Zeit sieht darin einen neuen Trend und fragt – im Wirtschaftsteil und nicht etwa im Feuilleton: „Kommt aus der Hauptstadt bald das deutsche »Breaking Bad«?“ +++

+++  Auf Friedenskurs sieht der Tagesspiegel den von der Welt gefeuerten Matthias Matussek und zitiert dessen Anwalt: „Dem Hause Springer gegenüber fühlt sich Herr Matussek auch weiterhin sehr verbunden und wird sich um eine gütliche Lösung bemühen.“ +++

Am Freitag wird das Altpapier in Form des dritten Geschenkpapiers (von Brigitte Baetz) erscheinen.

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