Was reflektieren Medien?

Was reflektieren Medien?
Diese Frage kann man sich nach einem ereignisreichen Wochenende stellen. Ob Medien dabei zugleich über die gesellschaftlichen Verhältnisse aufklären? Immerhin ist das Bemühen nicht zu bestreiten, wenn das der Vizekanzler und SPD-Vorsitzender Sigmar Gabriel am Sonntag auch anders gesehen hat.

Ein Terroranschlag in Ankara mit hundert Toten. Gleichzeitig eskaliert in Syrien nach der Intervention Russlands der Krieg. Eine Landtagswahl in Österreich und in Deutschland verschärfen sich die innenpolitischen Konflikte wegen der Flüchtlingskrise. Die Großdemonstration mit 150.000 Teilnehmern gegen das geplante Freihandelsabkommen TTIP in Berlin am Samstag drohte angesichs dieser Nachrichtenflut fast unterzugehen. In zugespitzten Zeiten ordnen sich die politischen Lager neu, weil die Beurteilung des sachlichen Gehalts eines Problems in den Hintergrund rückt. Selbstredend kann man etwa die Türkei und Russland als unabdingbar für ein Ende des Bügerkrieges in Syrien halten, ohne sich gleich mit Haut und Haaren den Positionen der beiden Präsidenten Erdogan und Putin zu verschreiben. Was das Freihandelsabkommen mit den USA damit zu tun hat? Nichts. Man kann das völlig unabhängig von der Flüchtlingskrise, der Situation in Österreich oder in Syrien beurteilen. Es gibt auch keinen Zusammenhang mit der Krise der FIFA oder des deutschen Fußballs nach dem Gewinn der Weltmeisterschaft. Man kann diese aber auch herstellen, um auf dieser Grundlage eine Ideologie zu kritisieren. Oder wird man dann selbst zum Ideologen? Wie das funktioniert, ist in diesem Kommentar von Alexander Neubacher auf Spiegel online nachzulesen.

„Nun ist nicht jede politische Initiative automatisch falsch, nur weil sie von den falschen Leuten beklatscht wird. Doch bei den TTIP-Protesten sind die Rechten nicht Mitläufer, sondern heimliche Anführer. Die Geisteshaltung vieler Anti-TTIP-Aktivisten ist im Kern eine dumpf nationalistische. Offene Grenzen sind ihnen einen Gräuel, ob es nun um Menschen oder um Handelsbeziehungen geht. Die Kampagne gegen den Freihandel ist wie auf dem braunen Mist gewachsen. An erster Stelle steht die im bewährten "Deutschland schafft sich ab"-Sound vorgetragene Behauptung der TTIP-Gegner, das geplante Abkommen zwinge zur Preisgabe der eigenen, angeblich viel besseren Standards. Vom "Ausverkauf deutscher Interessen an die Amerikaner" ist die Rede. Dabei soll doch am eigenen Wesen die Welt genesen, denn man hält sich für die Krone der Schöpfung.“

Neubacher weist in seinem polemischen Kommentar auf einen Widerspruch hin. Auf der Berliner Demonstration wird man viele Menschen gefunden haben, die in der Flüchtlingskrise einen völlig anderen Politikansatz befürworten als beim Freihandelsakommen: Freizügigkeit und offene Grenzen. Gleichzeitig hat aber TTIP eines nicht vor: Die Freizügigkeit von Menschen im Rahmen der transatlantischen Freihandelszone sicherzustellen. Es gibt zwar schon längst Visafreiheit, aber auch in Zukunft kein Recht auf Einwanderung oder Arbeitsaufnahme im jeweils anderen Wirtschaftsraum. Daran wird sich auch mit TTIP nichts ändern.

Offene Grenzen zwischen der EU und den USA wird es somit für die Menschen weiterhin nur als Touristen geben. Aber es ist halt spannend zu sehen, wie Neubacher Sachfragen ideologisiert und damit das eigentliche Thema verfehlt. Wenn „die Geisteshaltung vieler Anti-TTIP-Aktivisten“ eine „dumpf nationalistische“ sein soll, muss man sich schon fragen, warum zwischen den USA und der EU dieser „dumpfe Nationalismus“ weiterhin existiert. Wenigstens wenn es um Menschen geht und nicht um Chlorhühner. Wobei sich TTIP-Gegner zugleich fragen müssen, warum sie diesen Nationalismus umgekehrt in der Flüchtlingskrise diagnostizieren. Medien sollten sich mit solchen Widersprüchen beschäftigen. Ansonsten wird sich die Ideologisierung der Debatte so auswirken, wie es Neubacher auf Twitter beschreibt.

+++ Angesichts solcher Schlagzeilen werden sogar Plagiatsvorwürfe gegen die Bundesverteidigungsministerin zu einer Randnotiz. Eine solche veröffentlichte die Stanford-Universität in der USA. Die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen habe ihren Namen missbraucht. Der Mißbrauch liegt in der Erwähnung des Namens Stanford. Ohne die Plagiatsvorwürfe wäre die Welt am Sonntag nicht auf die Idee gekommen, in Stanford nachzufragen. Und ohne diese Nachfrage, wäre nie ein Kontext hergestellt worden, der schon längst bekannt gewesen war. In der Welt wird das so formuliert:

„Auf Anfrage der "Welt am Sonntag" teilte die Universität allerdings überraschenderweise mit, dass in Stanford keinerlei Dokumente darüber vorlägen. Für Tätigkeiten dieser Art würden auch keine formalen Leistungsnachweise ausgestellt. Die CDU-Politikerin war nach Kenntnis der Universität in keinem offiziellen Programm eingeschrieben, das mit einem Zertifikat oder akademischen Abschluss belohnt wird. Wer sich jedoch ohne ein solches Zertifikat für eine entsprechend umfangreiche Leistung in seinem Lebenslauf auf die Universität beziehe, so eine Sprecherin, missbrauche den Namen Stanford: "Typically, we could consider people who list things of that nature on a resume as misusing the Stanford University name."

Dass in Stanford keine Dokumente vorlagen, ist nicht erstaunlich. Die Ministerin hatte dort nie studiert, wie in der FAZ schon 2007 deutlich gemacht wurde. Warum die Ministerin Stanford erwähnt? Es macht sich halt gut im Lebenslauf. Ein Aufenthalt im Bayerischen Wald vermittelt dummerweise weniger Prestige als an einer amerikanischen Eliteuniversität. Was ist der Skandal? Es ist keiner. Man kann sich allerdings fragen, warum alle Welt meint, ihre Lebenläufe schönen zu müssen. Das könnte unter anderem an den Erwartungen liegen, die in Medien formuliert werden. Besonders kurios ist in diesem Fall die Welt am Sonntag.

„Als von der Leyen im Dezember 2013 zur Wehrministerin berufen wird, da hat Philip Breedlove noch nie von ihr gehört. Wer ist diese Frau, fragt sich der amerikanische General. Für den Supreme Allied Commander der Nato in Europa ist die Befehlshaberin über die Bundeswehr eine Schlüsselfigur. Deshalb googelt er ihren Namen. Auf Englisch gibt es damals nicht viel, aber Breedlove war seit 1983 fünf Mal in Deutschland stationiert, er kann einen deutschen Lebenslauf lesen: "Ich dachte: Wow! Was für eine exzellente Biografie." Was ihn so beeindruckt hat? Vor allem der Aufenthalt in Stanford, sagt der General, diesem "absolute superior college".

Es ist nämlich völlig egal, ob ein US-General die deutsche Verteidigungsministerin vor der Amtsübernahme kannte oder nicht. Warum ihn die Welt am Sonntag überhaupt nach seiner Meinung fragt, ist ein Rätsel. Wen interessert die? Es kann übrigens auch eine Hausfrau und Mutter Generälen den Marsch blasen. Dafür muss man nicht in Stanford gewesen sein – oder eine wissenschaftlich weitgehend wertlose Promotion verfasst haben. Das gilt sogar dann, wenn man sie selbst geschrieben haben sollte.

+++ In beiden Fällen gibt es eine Gemeinsamkeit. Medien reflektieren gesellschaftliche Zustände. Das ist etwas anderes als über sie aufzuklären. Wer Sachfragen ideologisiert, darf sich über ideologische Debatten nicht wundern. Wer Titel und Stationen für die entscheidende Qualifikationsvoraussetzung hält, kann über geschönte Lebensläufe nicht erstaunt sein. Es gibt aber einen Unterschied zu früheren Verhältnissen. Damals war es schwierig, eine Gegenöffentlichkeit zu etablieren. Die technischen Hürden waren vergleichsweise hoch. Das hat sich geändert. In der NZZ beschäftigt sich der Trierer Politikwissenschaftler Markus Linden mit den Folgen. Und diese sind für die etablierten Medien wenig schmeichelhaft.

„Offensichtlich deckt die deutsche Medienlandschaft das Meinungs- und Interessenspektrum der Bevölkerung unzureichend ab. Auch wer die russische Ukraine-Politik klar als Aggression identifiziert, kommt nicht umhin, die anfängliche Berichterstattung als einseitig und oft naiv zu bezeichnen. Gegenöffentlichkeiten können aber nur moderiert und reintegriert werden, wenn sie ungeachtet des Inhalts eine angemessene Repräsentation erfahren. Ein blosses «Igitt» verhindert die argumentative Disqualifikation.“

Nun muss das nicht einmal das Ziel etablierter Medien sein: die argumentative Disqualifikation. Schließlich sollen die Medien, idealtypisch gedacht, die Meinungsbildung des Bürgers ermöglichen und nicht für ihn übernehmen. Sobald dieser pädagogische Furor die Perspektive von Journalisten bestimmt, werden sie so, wie es ihre Kritiker immer behaupten: abgehoben und arrogant. Welcher Erwachsene will sich schon andauernd, wie ein Kind behandeln lassen? Das funktioniert auch nicht bei Journalisten gegenüber ihrem Publikum. Wobei Linden deutlich macht, was das eigentliche Problem ist. Eine realistische Sichtweise der internationalen Ordnung sei „in Deutschland wissenschaftlich und medial zu wenig präsent.“ Das bliebe zu häufig den Alternativmedien überlassen. Diese vermischen das anschließend mit „Verschwörungsdenken“ und „Heils- und Ganzheitserwartungen an die Politik“, die niemand erfüllen kann.


Altpapierkorb

+++ Eines kann man den öffentlich-rechtlichen Sendern nicht vorwerfen. Sie hätten in der Flüchtlingskrise einer politischen Rechten das Wort geredet, die ihe Kritik an der Politik der Bundesregierung mit ausländerfeindlichen Sprüchen garniert. ARD und ZDF bemühten sich um Verständnis für die Flüchtlinge und standen zumeist an der Seite der Kanzlerin. Das gilt auch für den ansonsten lammfrommen „Bericht aus Berlin“ der ARD. Er hatte sich allerdings in der vergangenen Woche (siehe auch das Altpapier) an der satirischen Verfremdung der Kanzlerin versucht – und zeigte sie im Tschador. Es war als Reaktion auf die „Ängste und Sorgen“ der Bürger gedacht gewesen. Nur wäre die Lage bei der ungesteuerten Zuwanderung von einer Million Buddhisten im Jahr kaum anders. Auch diese bringen ihre Unterkünfte bei der Einreise nach Deutschland nicht mit. Nicht die Angst vor der Islamisierung bestimmt die Kritik an der Regierung, sondern der faktische Kollaps der deutschen Infrastruktur.

+++ Während also der „Bericht aus Berlin“ mit seiner satirischen Zuspitzung in der vergangenen Woche die Debatte bestimmte, scheint das in dieser Woche das ZDF-Format „Berlin direkt“ zu betreffen. Dort interviewte Bettina Schausten den SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel. Dieser will vermeiden, in der Flüchtlingskrise nur noch als der Anhang der Bundeskanzlerin betrachtet zu werden. Entsprechend muss er sich von ihr absetzen, ohne aber ernsthaft einen anderen Ansatz vertreten zu können. Den formuliert ja schon der Horst Seehofer von der CSU. Das fand Frau Schausten nicht überzeugend, was Gabriel schließlich zu seiner schon bekannten Medienkritik motivierte. Nicht die Position der SPD sei das Problem, sondern deren Darstellung in den Medien. Nur ist es nicht die Aufgabe der Medien, die SPD aus ihrer Zwickmühle zwischen der Kanzlerin und dem bayerischen Ministerpräsidenten zu befreien. Aber vielleicht kann ihn „Berlin direkt“ am kommenden Sonntag im Tschador zeigen. Das könnte der SPD publizistische Entlastung bringen.

+++ Dem Spiegel hat der neue Chefredakteur der taz ein Interview zum Selbstverständnis seines Blattes gegeben. Georg Löwisch kam vom Cicero und muss sich gegen den Eindruck wehren, die taz sei zahm geworden. Zahm? Unser Justitiar sei gut beschäftigt, so Löwisch. „Und gerade habe ich einem Kollegen geraten, er sollte in einem Kommentar ein bisschen seltener Worte wie „widerwärtig“ oder „widerlich“ benutzen. Hat er trotzdem gemacht, was völlig in Ordnung ist.“ Ob das jetzt unter die Rubrik „Hasspostings“ fällt, wurde aber nicht weiter diskutiert. Aber es ist schon seltsam, wenn man sich zwar über den User auf Facebook aufregt, aber zugleich Beleidigungen im eigenen Blatt für völlig in Ordnung hält.

+++ Lustig war am Samstag die Bild. Dort packte Deutschlands Teleshopping-Papst Walter Freiwald aus. Es war der Bild nämlich aufgefallen, dass zwei Sternchen der Unterhaltungsbranche namens Elvers und Nick praktisch identischen Schmuck als eigenes Design auf Einkaufssendern verhökern. So ein Zufall aber auch. Freiwald schildert die Logik dieses Konzepts: „Es ist ein gutes Geschäft. Die Sender können sich vor VIP-Anfragen kaum retten und freuen sich, denn der Name eines Prominenten ist wie eine Marke. Man kann einen Elvers- oder Nick-Ring teurer verkaufen als No-Name-Schmuck." Da fragt man sich glatt, ob es die Bild mit ihren Volksprodukten nicht auf den Shopping-Portalen versuchen sollte. Wie das funktioniert, kann man auf der Seite mit dem Teleshopping-Papst nachlesen. Dort bietet die Bild ein Handy jener Marke an, wo früher Bill Gates aktiv gewesen ist.

+++ Was jetzt nicht mehr fehlt? Die Debatte um das Interview von Sigmar Gabriel. In der Süddeutschen Zeitung gibt es eine prägnante Zusammenfassung dieses Interviews. In der FAZ nennt Oliver Georgi das Interview erfrischend: "Um das mal festzuhalten: Es ist kein Eklat, wenn Gesprächspartner bei einem Interview nicht einer Meinung sind und das auch offen kundtun. Und es ist auch keine Verrohung der Sitten, wenn ein erkennbar übellauniger Politiker keine Lust hat, sich an die „political correctness“ zu halten." Ansonsten "pflegen wir in Deutschland einen weitgehend weichgespülten medialen Diskurs: Auf gestanzte, wolkige Fragen von Journalisten folgen in der Regel gestanzte, wolkige Antworten von Politikern - so wollen es die Gepflogenheiten zur besten Sendezeit. Erkenntnisgewinn für den gelangweilten Zuschauer: null."

+++ Stefan Winterbauer hält sich auf Meedia mit seiner Kritik an Gabriel nicht zurück. "Sigmar Gabriel ist offenbar dem Irrglauben verfallen, wenn er nur aggressiv und bestimmt genug auftritt und immer wiederholt, dass er und die SPD recht haben und alles richtig machen, dass das dann irgendwann auch wahr wird. So ist das aber nicht. Während Sigmar Gabriel mal hier und da in der Gegend herummeint und sich von der Bild-Zeitung für deren “Wir helfen”-Kampagne einspannen lässt, zeigt die Bundeskanzlerin die berühmte klare Kante, von der Leute wie Gabriel nur reden."

+++ Außerdem gibt es jetzt auch etwas Neues über Ursula von der Leyen aus Stanford. Die amerikanische Eliteuniversität fühlt sich jetzt komplett missverstanden, so berichtet Spiegel online. "Das Statement von Lisa Lapin, Associate Vice President für Öffentlichkeitsarbeit der Uni Stanford, ist deutlich: Sie sei "niedergeschlagen" (Originalton: disheartened) wegen der "übertriebenen und falschen Medienberichte während des vergangenen Wochenendes", schreibt Lapin an von der Leyen. Die Ministerin habe nachgewiesen, dass sie 1993 Gasthörerin im Fachbereich Business der Eliteuni gewesen sei, und dass sie 1995 ein Projekt für die Verwaltung der Stanford Gesundheitsdienste bearbeitet habe. "Da die Universität derartige Aktivitäten nicht dokumentiert, stellt die faktische Auflistung keinen Missbrauch des Namens der Universität dar." Man "bedauere die Missverständnisse", die zu den Berichten geführt habe." Gegen Niedergeschlagenheit könnte sicherlich ein Aufenthalt im Bayerischen Wald helfen.

+++ Was jetzt auch nicht mehr fehlt? Die Personalie des Tages.

Das Altpapier gibt es wieder am Dienstag.

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