Hurra, hurra, die Branche brennt

Hurra, hurra, die Branche brennt
Deutschen Verlagen geht es wunderbar, und niemand kann das so schön erklären wie der BDZV. Spiegel-Blog-Leser brauchen gar kein Blog; eine offene Kommentarspalte reichte völlig. Der Markt der Produktionsfirmen lädt zu Absprachen ein. So kaufen Sie sich einen freien Journalisten. Die Brillen für die virtuelle Realität sind da.

Vergessen Sie, was Sie jemals über diese angeblich existierende Zeitungskrise gehört haben. Lesen Sie lieber diese Pressemitteilung aus dem Hause BDZV, die dieser anlässlich seiner gestrigen Jahrespressekonferenz herausgegeben hat.

So viel Positives war schon lange nicht mehr aus deutschen Verlagen zu hören.

„Das Digitalgeschäft sei der Wachstumstreiber(...). Die Nutzerzahlen der Onlineangebote gingen kontinuierlich nach oben (...). Überdurchschnittlich gut erreichten die Zeitungen mit ihren Angeboten jüngere Zielgruppen.“

Hurra! Und das Beste ist: Sie haben auch Zahlen, die den unaufhaltbaren Aufwärtstrend der deutschen Presse belegen: On- und offline erreiche sie jeden Tag 52 Millionen Menschen, heißt es.

„Damit seien drei Viertel der deutschsprachigen Bevölkerung regelmäßige Zeitungsleser.“

Die Zahl der E-Paper-Abos sei um 30 Prozent gestiegen; die Zahl der Bezahlangebote im Netz ebenso. „In den Köpfen der Menschen ist angekommen, dass guter Journalismus auch im Netz seinen Preis hat“, lässt sich Hans-Joachim Fuhrmann von der BDZV-Geschäftsleitung zitieren.

Toll. Großartig. Wir sind begeistert! Aber warum zur Hölle werden dann immer weiter fleißig Redakteure entlassen, Freie mit Honoraren abgespeist, für die der örtliche Ein-Euro-Punker sich nicht morgens an den Hauptbahnhof setzen würde, und wie erklärt sich folgende Propagandashow eine Pressemitteilung weiter:

„,Doch das ist dieselbe Bundesregierung, die es uns durch praxisfremdes Eingreifen fast unmöglich macht, die Menschen jenseits der Ballungsräume betriebswirtschaftlich sinnvoll mit der Zeitung zu versorgen’, kritisierte Wolff. Dies sei eine der Folgen des Mindestlohns, der die Zustellung auf einen Schlag um 230 Millionen Euro verteuert habe. Der BDZV-Hauptgeschäftsführer machte deutlich, wie existenziell wichtig die Zeitungen im Mediensystem in Deutschland seien. Kein anderes Medium könne die Welt in ihrer Universalität so professionell abbilden.“

Verstehe ich das richtig: Den Verlagen geht es prächtig, aber es gefährdet die Demokratie, wenn sie armen Menschen, die morgens um vier bei Wind und Wetter kiloweise Papier durch die deutsche Provinz schleppen, dafür 8,50 Euro pro Stunde bezahlen müssen? (Und jetzt erzählen Sie mir nicht, das sehe nicht jeden Morgen genau so aus.)

Warum zur Hölle musste dann das Baugewerbe diesen einführen (Hallo? Häuser?! Auch wichtig für Demokratie und Wohlbefinden!)? Friseure (Mit schlechten Frisuren können wir uns echt nicht vor den Griechen blicken lassen! Aber wer wollte dafür schon mehr als fünf Euro pro Schnitt bezahlen?)?! Und sogar Praktikanten bekommen nun Mindestlohn, obwohl jeder weiß, dass ganze Wirtschaftszweige ohne sie quasi personallos sind.

Ach ja, da war ja noch was:

Überdurchschnittlich gut erreichten die Zeitungen mit ihren Angeboten jüngere Zielgruppen. 5,5 Millionen der 14- bis 29-jährigen Internetnutzer (37 Prozent) sowie 7,8 Millionen der 30- bis 49-Jährigen (35 Prozent) besuchten regelmäßig die Webangebote.“

Yep. Womit der BDZV eigentlich sagen wollte: Derzeit erreichen wir 65 Prozent der 30 bis 49-Jährigen nicht mal im Internet, obwohl dort viele unserer Inhalte kostenlos herumstehen. Man möchte gar nicht wissen, was der BDZV in diesem Punkt als Durchschnitt empfindet, oder gar als unterdurchschnittlich schlecht.

Warum wir das hier so genau auseinanderdröseln müssen? Weil es sonst keiner macht. Denn klar, Zeitungen erscheinen in Verlagen, und wer wollte schon schlecht über seinen Arbeitgeber schreiben, gerade in diesen Zeiten? Wenn Sie trotzdem mal schauen mögen: Schöne Nacherzählungen der Pressemitteilung finden sich etwa bei Tagesspiegel, Welt, Hannoversche Allgemeine Zeitung oder kress.de.

So. Und nach der nächsten Maus stellen wir uns dann die Frage, ob die Damen und Herren vom BDZV eigentlich schon mal eine dieser Lokalzeitungen gelesen haben, denen sie spiegeleske Demokratie-Sturmgeschütz-Qualitäten zuschreiben? Als ich das letzte Mal geschaut habe, saßen abseits der paar Leuchtturmprojekte überarbeitete Redakteure, die jeden Tag eine Seite zuschrubben mussten, und ob das überhaupt noch als Journalismus, geschweige denn als die so geschätzte Form mit dem Vornamen Qualität durchgeht, bin ich mir nicht sicher.

Jetzt aber erstmal: Themenwechsel.

[+++] Hat hier gerade jemand Spiegel gesagt? Ja, auch wenn er sich vor Wochen von seiner Medienseite und damit der regelmäßigen Präsenz hier verabschiedet hat (siehe Altpapier): Den gibt es noch, verlässlich zu erkennen an den immer obskurer werdenden Titelbildern .

„Karikaturen spielen mit Schwächen und Peinlichkeiten und überzeichnen Klischees und bleiben doch satirisch humorvoll, auch in Krisenzeiten“,

rechtfertigte Klaus Brinkbäumer die aktuelle Version im Spiegel-Blog.

Was die wirklich überraschende Nachricht ist: Auch das gibt es noch. Im Jahr drei seines Bestehens möchte man das Format aber offenbar überdenken, wie Martin U. Müller im aktuellsten Beitrag dort schreibt:

„Nun überlegen wir, wie wir das Blog weiterentwickeln können, damit Sie dort genau das finden, was Sie interessiert. Am Ende dieser Überlegungen kann stehen, dass alles so bleiben soll wie bisher. Wir gehen aber fest davon aus, dass Sie Ideen, Wünsche, Anregungen oder vielleicht auch Beschwerden haben. Kurz: Wir würden gern wissen, was Sie vom SPIEGELblog erwarten, was Ihnen fehlt, welche Themen interessant wären und worüber Sie mehr erfahren möchten. Deshalb freuen wir uns sehr, wenn Sie uns schreiben, was Sie dazu denken: spiegelblog@spiegel.de“

Nett, dass sie an die Leser denken, sagen die Einen. Denen ist das Blog so egal, dass sie sich nicht mal selbst überlegen mögen, wie es damit weitergehen soll, die Anderen.

In den Kommentaren zum Aufruf stellen sich nun die freundlichen Menschen vor, die das Angebot bislang wahrnehmen:

„Die Einschränkung der Meinungsfreiheit, die hier sehr von vielen Foristen seit längerer Zeit ansprochen wird ist das Problem und nicht die Gestaltung der Seiten.“

„Meine Kritikpunkte: 1. Es gibt zu viele Tabu-Themen, bei denen nicht debattiert werden darf: Israel, Flüchtlingsschwemme, Pegida, AfD teilweise, Ausländerkriminalität, teilweise auch USA“

„Ich bemerke eine grenzwertige Einschränkung der Meinungsfreiheit. Jeder zweite Forumsbeitrag von mir, der von der politischen Generallinie abweicht, wird nicht veröffentlicht.“

In anderen Worten: Der größte Wunsch der Spiegel-Blog-Leser ist, dass man ihnen endlich die Kommentarsektion uneingeschränkt freischaltet. Der Artikel, der oben drüber steht, scheint hingegen weitestgehend egal zu sein.

Das hat man davon, wenn man die Leser nach ihrer Meinung fragt: Sie wissen nicht nur mehr, sie wissen es einfach besser.

Das nächste Mal übernimmt die Weiterentwicklung dann vielleicht doch die Redaktion.


Altpapierkorb

+++ Wer immer noch Kritiken zu LeFloids Angela-Merkel-Interview (und deren Kritiken) konsumieren mag (Altpapier gestern): Da wären noch Richard Gutjahr/tagesschau.de, Jenni Zylka/taz.de, Thomas Knüwer/Indiskretion Ehrensache, Tobias Gillen/Basic Thinking und Michael Hanfeld auf der Medienseite der FAZ (zum Beispiel). +++

+++ Bereits am Donnerstag hatte diese vermeldet, dass das Kartellamt gegen zwei Produktionsfirmen wegen Preisabsprachen ermittelt (siehe Altpapier). Heute beschreibt Jörg Seewald auf der FAZ-Medienseite, was man auch ohne langwierige Ermittlungen über das offenbar filzige Geschäft herausfinden kann: „Dort hat sich ein Oligopol herausgebildet, das von Tochterfirmen der öffentlich-rechtlichen Sender beherrscht wird und zu Absprachen einlädt.“ +++

+++ Im Tagesspiegel erinnert Joachim Huber an den gestern verstorbenen Regisseur Wolf Gremm. Der RBB zeigt heute Abend sein letztes Werk „Ich liebe das Leben trotzdem“, in dem Gremm selbst, teilweise mit dem Handy, den Verlauf seiner Krebserkrankung dokumentiert (DWDL). +++

+++ Die taz ist hier in den vergangenen Wochen ein wenig zu kurz gekommen. Was daran liegt, dass sie derzeit nur ausgewählte Ressorts ihrer aktuellen Ausgabe ins Netz stellt, und die flimmernd-rauschenden Medienthemen sind nicht darunter. Dabei existieren sie durchaus noch jenseits der morgendlich-digitalen Erreichbarkeit, wie dieser Text beweist. Er widmet sich den schmierigen Angeboten, die PR-Firmen freien Journalisten machen, von denen sie (zu Recht) annehmen, dass sie ein Zubrot gebrauchen können. Dafür müssen sie dann aber ihre journalistische Seele verkaufen. +++

+++ Forsa hat für den Stern eine nicht saubere Umfrage mit entsprechend erstaunlichen Ergebnissen zum Grexit produziert, schreibt Stefan Niggemeier in seinem Blog. +++

+++ „Dort, wo Journalismus, wo Datenjournalismus dringend benötigt würde, findet er nicht statt.“ Ist die Kurzfassung von Lorenz Matzats Text zum Datenjournalismus in diesem Land. Die Begründung zur These steht auf datenjournalist.de. +++

+++ Gestern erschien das Jahrbuch Fernsehen. Was einen dabei erwartet, hat die Medienkorrespondenz zusammengetragen (u.a. widmet sich Altpapier-Autor Christian Bartels dem Trend zu „europäische(n) Koproduktionen, in denen Schauspieler aus verschiedenen Ländern in ihrer eigenen Muttersprache oder dialektbehaftetem Englisch grenzübergreifend Kriminalfälle lösen.“). +++

+++ Noch ein Buch, das des Nachrichtenchefs des dänischen Rundfunks, der sich positive Nachrichten wünscht, war vergangene Woche bereits hier und in der NZZ Thema. Nun hat es die Medienseite der SZ erreicht. +++ Wo zudem Martin Schneider über die Steigerung des Live-Fernsehens berichtet: „Das technische Gerät dafür gibt es längst, es ist aber noch nicht serienreif. Die verschiedenen Brillen, die man aufsetzen muss, um die virtuelle Realität zu erleben, sehen sehr kastenförmig aus und tragen Namen wie Oculus Rift (Facebook) oder Project Morpheus (Sony). (...) Aktuell kann man manche Smartphones mithilfe eines Pappgestells in eine VR-Brille umbauen, aber das ist genauso improvisiert, wie es klingt. Das hindert aber Filmemacher, Spieleentwickler und Journalisten nicht daran, in diesen Systemen das zu sehen, was die Menschen damals im Live-Fernsehen gesehen haben: die Zukunft. Gerade im Bereich Journalismus ergeben sich faszinierende Möglichkeiten.“ +++

+++ Derweil Michael Hanfeld in der FAZ: „Die Dokumentarfilmerin Laura Poitras verklagt das amerikanische Justizministerium und die Transportsicherheitsbehörde, weil sie erfahren möchte, warum sie seit Jahren überwacht wird.“ +++

+++ Und dass manche Adblocker nur im Einsatz sind, weil die Werbung einfach unerträglich gestaltet ist, wie gestern hier angebracht, hat auch Meedia erkannt und Verbesserungsvorschläge zusammengetragen. +++

Frisches Altpapier gibt es morgen wieder. 

weitere Blogs

In einer Kirche hängt links neben dem Altar ein Schild mit der dreisprachigen Aufschrift No pasar - Überholverbot - no passing
In Spanien gibt es ein Überholverbot am Altar.
G*tt ist Körper geworden. Was für eine Gedanke! Birgit Mattausch geht ihm nach.
Heute erscheint der sechste und vorerst letzte Beitrag unserer Themenreihe Polyamorie. Katharina Payk fragt: Wo kommt Polyamorie im Kontext von Kirche und Pfarrgemeinde vor?