Die Selbstabschaffung der klassischen Medien gewinnt an Fahrt. Wer nach Meinung meinungsfreudiger Experten derzeit daran arbeitet: erstens natürlich die Print-Branche, nun jedoch auch in Gestalt ihres oft und zurecht als eigentlich vorbildlich gelobten Grossosystems, zweitens die ARD beziehungsweise der WDR stellvertretend für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
Wir schalten erst mal nach Chemnitz in die Reichsstraße. Neulich schwamm ein dortiger Supermarkt noch glücklich in Erdbeeren und teilte das den Freunden via Facebook mit. Kürzlich aber kam Post von einem anderen Lebensmittel-Lieferanten und katapultierte Edeka Heymer in eine andere Liga:
"Sehr geehrte Kundschaft,
heute Morgen nun erreichte uns die Kündigung des MITTELDEUTSCHEN PRESSEVERTRIEBES! Mit der Begründung, dass wir uns standhaft weigern die BILD Zeitung zur Auslage zu bringen. Gekündigt wurde die Belieferung zum 22.05.2015 . Da es ein Gebietsrecht gibt, dürfen wir uns von keinem anderen Grossisten beliefern lassen, das heißt wir dürfen uns ab sofort keine Zeitschriften von einem Pressevertrieb liefern lassen. Für alle Freunde der Printmedien heißt es nun, bitte zum Kiosk gehen",
der sich aber direkt nebenan befände, informieren die Heymers ebenfalls bei Facebook.
"Wer keine Bild verkaufen will, darf nix mehr verkaufen - wie sich die Print-Branche selbst abschafft",
fasste der wegen seiner Zuspitzungen beliebte Berater Thomas Knuewer auf Twitter zusammen. In Form eines Onlineartikels aufbereitet wurde die Sache gestern bei schleckysilberstein.com (ein Internetangebot, das schon mal in diesem und sonst in keinem Altpapier auftauchte), sowie beim staatlich russisch finanzierten Portal rtdeutsch.com.
Im Kern steckt darin eine Frage, die zumindest vor wenigen Jahren noch enorm brisant gewesen wäre: Genießen den Tendenzschutz, den Verleger genießen, Verkäufer von Verleger-Erzeugnissen nicht?
Ob es wirklich gut wäre, wenn sie es doch täten, weiß ich nicht. Schließlich ließe sich durchaus vorstellen, dass Kioske zum Beispiel in Sachsen Zeitungen mit ganz anderen Tendenzen nicht auslegen mögen, und dann wäre die Zustimmung zu solch einer resoluten Grossisten-Haltung gewiss groß.
Grundsätzlich und -gesetzlich geklärt werden wird diese Frage aber wahrscheinlich nicht mehr. Einzelhändler werden wohl kaum noch vor Gericht ziehen, um ihr Recht, bloß bestimmte Presseerzeugnisse auslegen zu dürfen, einzuklagen, zumindest wenn sie stattdessen auch Erdbeeren verkaufen können. Oder frei werdende Flächen anders nutzen:
"Desweiteren haben wir uns überlegt die frei gewordene Fläche sinnvoll zu nutzen. So wird in den nächsten Tagen dort ein Sortiment an Kinderbüchern, Malbüchern und Bestsellern ausliegen",
bleibt der Chemnitzer Edeka immerhin der Printbranche treu.
Und auch der Springer-Konzern lässt zumindest bei einem seiner journalismusferneren Star-Geschäftsmodelle mit internationalem Potenzial Gnade walten. Bei kaufda.de (das streng genommen sogar ein journalismuskannibalisierendes Geschäftsmodell ist; schließlich braucht, wer aktuelle Sonderangebot-Prospekte studieren möchte, auch dazu längst keine Zeitung mehr ...) bleibt Edeka Heymer gelistet. Aktuell können Kunden sich einen Henkel-Treuegutschein ausdrucken (und es geht nicht um die AfD, sondern um Haarpflegeprodukte).
[+++] Apropos Springer und Gnade:
"Haben die Rächer der Menschenrechte vergessen, dass hinter den Bildschirmen Menschen sitzen?",
fragte Ronja von Rönne im Rahmen eines "Plädoyers für mehr Gnade im Internet" in dem Springer-Medium, das auch Pressehändler mit Haltung verkaufen könnten. Ohne dabei die auch in diesem Altpapier erwähnte "altbackene Äußerung" der inzwischen ehemaligen Zeitungskolumnistin Barbara Eggert zu unterschreiben, schilt von Rönne das Westfalen-Blatt (mit Kai-Diekmann-Vergangenheit) der "vollkommenen Rückgratlos"-igkeit, weil es mit dem Feuern der in einen Shitstorm geratenen Mitarbeiterin so schnell war. Siehe auch bildblog.de neulich.
[+++] Jetzt wieder großes Kino mit Fernsehstar Thommy Gottschalk (Altpapier gestern). Die Aufregung um seine WDR/ ARD-Honorare kocht langsam, aber recht gewaltig hoch, nachdem die sie auslösende AG Dok sich zunächst offenkundig damit verspekuliert hatte, ihre Infos als erstes der Bild-Zeitung anzuvertrauen (die sie online immer noch in ihrem Bezahlangebot versteckt). Den tagesaktuell originellsten Dreh hat zeit.de gefunden:
"2,7 Millionen Euro für ein Fernsehen ohne Gottschalk ist kein Desaster, sondern ein Schritt in die richtige Richtung. Der Skandal liegt woanders: Aus dem Vertrag geht hervor, dass die ARD bereit gewesen wäre, Thomas Gottschalk fast fünf Millionen Euro dafür zu bezahlen, dass er moderiert. Während also Europa zwischen einem eskalierenden Neoliberalismus, einem expansiven Russland, einem ausblutenden afrikanischen Kontinent hin- und hergeworfen wird, während amerikanische Serienformate die Fernsehunterhaltung zum dritten und vierten Mal umstürzen und neu aufstellen, während die digitalen Darstellungsformen nach finanzstarken Investoren geradezu dürsten, gibt die ARD ihr Geld immer noch in den achtziger Jahren aus",
sprachspielt Felix Stephan in seinem unter anderem mit "Hannah Arendt" und "Heiner Müller" verschlagworteten Kommentar. Es lässt sich natürlich leicht daherfeuilletonisieren, wenn man sich mit dem Fernsehen so eklektizistisch beschäftigt wie die Die Zeit-Medien. Aber die Schlussfolgerung
"Bessere Argumente könnte die ARD denen, die ihre Abschaffung fordern, gar nicht liefern"
werden alle amtierenden Intendantinnen und Intendanten gewiss ausgedruckt bekommen. Dasselbe in den Worten derer, die noch ans Gute im öffentlich-rechtlichen System glauben:
"Der Finanzskandal um die angebliche Millionengage für Gottschalk kann jedoch auch Chance für eine Katharsis sein. Denn die ARD mit ihren vielen kommerziellen Töchtern braucht dringend mehr Transparenz, um das verloren gegangene Vertrauen bei den Gebührenzahlern ..." (usw. usf., digitalfernsehen.de).
Im Aufmacher der SZ-Medienseite weist Claudia Tieschky auch darauf hin, dass "exakt zur selben Zeit", in der der WDR unter der Führung seiner damaligen Intendantin Monika Piel mit Gottschalks Management verhandelte (bzw. "die ARD, vertreten durch die WDR-Werbetochter WDR Media Group, ... sich ihm willig zu Füßen" warf), auch
"jene gigantische Umstellung an[lief], mit der seit 2013 Abgaben auch von Haushalten ohne Fernseher erhoben werden, weil ARD, ZDF und Deutschlandradio sonst nicht über die Runden kommen, wie sie beteuern."
Wobei, da habe ich nun übers Ziel hinaus geschossen. Im Alltag, wenn keine anderswo prominent gewordenen Nasen zugegen sind, verhandeln sie schon gut beim WDR:
"Produktions- und Verwaltungsmitarbeiter werden über Leiharbeitsgesellschaften angemietet, Stellen werden nur befristet vergeben und ein Heer von scheinselbständigen Freien Mitarbeitern ist für die Herstellung des journalistischen Programms zuständig. Über 1.700 WDR-MitarbeiterInnen sind sog. Feste Freie, sie haben keine festen Verträge, keine vernünftigen Arbeitsplätze, wenig Rechte, aber sie zeichnen für bald 90% des WDR-Programms verantwortlich",
berichtet nicht aus diesem Anlass, aber doch aktuell Hektor Haarkötter in seinem Blog antimedien.de.
"Der WDR hat Pfingsten damit verbracht, nach Aufklärung zu suchen und wollte sich an diesem Mittwoch zur Sache äußern", schreibt Tieschky noch in der SZ zum Gottschalk-Thema.
[+++] "Wir Journalisten haben es bislang nicht geschafft, unser aller Geldproblem zu kommunizieren. Zumindest wäre das die freundlichste Erklärung der Reaktionen, die seit dem Start der Mitglieder-Kampagne bei den PBN eingehen",
schreibt Altpapier-Autorin Juliane Wiedemeier in ihrem eigenen Blog über die Rettungs-Kampagne der Onlinezeitung Prenzlauer Berg Nachrichten, an der ihr Herz schon deshalb hängt, weil sie sie mitgegründet hat.
Diese Kampagne hat an diesem Mittwoch noch "3 Tage Restzeit".
+++ "Deutschland hofft auf satten Erlös aus Frequenzauktion", berichtet der österreichische Standard über die nun anlaufenden Aktivitäten zur Steigerung der allgemeinen Internetgeschwindigkeit (über die am ausführlichsten Volker Nünnings gestern hier verlinkte medienkorrespondenz.de-Artikel informiert). +++ "Faktisch baut Deutschland nicht aus. Die Telekom-Lobby hat erwirkt, dass zunächst einmal das Kupfer-Netz ausgelastet werden soll. Deshalb wird in Deutschland als Breitband bezeichnet, was in anderen Ländern als technische Störung gilt", sagt in ähnlichem Zusammenhang der schon erwähnte Thomas Knüwer (digitalfernsehen.de-Interview). +++ "Funklöcher stopft man nicht mit Seemansgarn", sprachspielt die grüne Medienpolitikerin Tabea Rößner in ihrem Blog und in unmittelbarem Frequenzauktions-Zusammenhang. +++
+++ Die FAZ-Medienseite befasst sich mit gestern hier im Korb erwähnten Urteil gegen den Nordkurier, der das schlimme Wort "Rabauke" verwendete: "Der Chefredakteur Lutz Schumacher beklagt verschiedene 'Einschüchterungsversuche' der Staatsanwaltschaft in den vergangenen Monaten. Gegen Journalisten seines Blattes wurde auch wegen Verleumdung und Geheimnisverrat ermittelt – Letzteres, weil man über den Inhalt nichtöffentlicher Gemeinderatssitzungen berichtet hatte. 'Die hiesige Staatsanwaltschaft ist übereifrig, man begreift dort nicht die verfassungsrechtlich geschützte Stellung der Presse', klagt Schumacher ... In einem Kommentar hat er nun von 'Rabauken in Richter-Roben' geschrieben. Die nächste Strafanzeige dürfte schon vorbereitet werden ...". Dieser Kommentar steht unter dem gestern hier verlinkten Nordkurier-Artikel. +++
+++ Über Facebook-Pläne mit dem gekauften Start-up Tugboat berichten die FAZ und kürzer die TAZ. +++
+++ Die fünfte Staffel "Homeland" wird mit rund und "1000 'Berlinern verschiedener Nationalitäten'" in Kürze gedreht, die vierte läuft ab Juli statt auf Sat.1 beim noch kleineren Kabel 1 (jeweils Tagesspiegel). +++
+++ Der heutige ARD-Dokumentarfilm "Die Folgen der Tat" wurde schon das eine oder andere Mal besprochen. Heute tun's die SZ (Bernd Graff: "Und doch wohnt der Zuschauer gewissermaßen auch familientherapeutischen Angängen bei, die nicht mehr nah an die Untat, aber sehr, sehr nah an die Familie einer ehemaligen Terroristin führen. Auch dieser Film kann in Geiselhaft nehmen") und die FAZ (Julia Dettke: "Bei dem Versuch, eine Person aus den Schilderungen anderer zu charakterisieren, bleibt notwendigerweise eine Lücke, das Zentrum des Films ist eine Leerstelle. Die Wut der jüngeren Schwester und die Hilflosigkeit der Mutter gehen einem nahe in diesem subjektiv erzählten Dokumentarfilm. Susanne Albrecht versteht man durch ihn nicht."). +++
+++ Das unter der früheren konservativen Regierung abgeschaffte griechische Staatsfernsehen ERT geht in Kürze wieder auf Sendung, "allerdings anders als angekündigt" und vermutlich nicht gerade regierungsfern, berichtet Ferry Batzoglou in der TAZ. +++
+++ Ebendort: sowohl "eine Asti-Spumante-Dusche für Anna Meyer-Minnemann!" als auch ein "Pechbad mit Federbewurf". Da spricht natürlich die Kriegsreporterin. +++
+++ In Berlin endet "nach 18 Jahren eine der längsten und fruchtbarsten Kooperationen der deutschen Comicszene" (Tsp.). +++
+++ "Mit der Vorratsdatenspeicherung können durch die Hintertür auch Bewegungsprofile entstehen, obwohl das gern dementiert wird." Anna Biselli erklärt auf netzpolitik.org, wie. +++
+++ In New York werden erstens mehrere Milliarden Dollar schwere Kabelunternehmen, die allesamt im Wettbewerb mit Netflix stehen, verschmolzen (handelsblatt.com) und wurde zweitens das in Mannheim spektakulär abgebrochene GNTM-Finale aufgezeichnet (Standard). +++
+++ Und mal nicht aus Phoenix, Arizona, sondern aus NRW kommt der größte Text auf der FAZ-Medienseite. Dort traf Uwe Ebbinghaus einen Hauptdarsteller der neuen MDR-"Tatorte": "Aus dem Fernsehen kennt man ihn als steifnackigen Fiesling, privat erweist er sich als überaus höflicher Gesprächspartner. Moderierend schiebt er jetzt sein Fahrrad in Richtung eines italienischen Eiscafés, wo ihn der Kellner mit 'Hallo Martin, alles klar?' begrüßt. Brambach, immer um gute Stimmung bemüht, antwortet: 'Ja, super!' Wir befinden uns in Recklinghausen, der Heimatstadt von Hape Kerkeling und Renate Künast ..." +++
Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.