Post-Schirrmacher-Ära-Verschiebungen bei der FAZ. Zweifelhafte Korpusanalysen zur Berichterstattung über das Meistberichterstattete. Feuilletons, die sich wie Leitartikel munitionieren. Weiterungen in der Joffe-Bittner-Klage. Und: Der ARD-Jugendkanal könnte eventuell tatsächlich noch kommen
Die Meldung des Tages für Kaffeesatzleser des Betriebs kommt aus dem Hause Springer:
"'Welt'-Gruppe wirbt Dirk Schümer von der 'FAZ' ab"
Steht etwa bei dwdl.de. Die Personalie ist, gut zwei Monate nach dem Tod von Frank Schirrmacher, erstes äußeres Indiz von tektonischen Verschiebungen im FAZ-Feuilleton, die der Wegfall eines solch gewaltigen Machtzentrums, wie Schirrmacher es darstellte, nach sich ziehen muss.
Zur Erinnerung: In der Nachrufverfasserhierarchie stand Schümer mit seinem Text prominentest auf Seite 1 des nur aus Nachrufen von Mitarbeitern bestehenden FAZ-Feuilletons am Tag 2 nach Schirrmachers Tod. In den Empfehlungscharts – sorry, das kommt vom vielen Kress.de-Meedia.de-Quotentriumphe-Lesen – kommt Schümers Text zur Stunde übrigens mit 49 Favorisierungen auf Platz 7 ein, gemeinsam mit Stefan Aust. Unangefochtener Spitzenreiter dieser Rangliste ist Edo Reents (Pole Position mit dem ersten Nachruf am Tag 1 nach Schirrmachers Tod) mit 978 Empfehlungen. Es folgen: Günther Nonnenmacher (125), Volker Zastrow (101), Günther Jauch (92), Mathias Döpfner (79) und Nils Minkmar (75).
Um es vorsichtig zu formulieren: Man muss nicht Berater von der Pieke auf gelernt haben, um zu ahnen, dass Schümers Arbeitsplatz als "Europakorrespondent" mit Sitz in Venedig in der Frankfurter Lohnbuchhaltung eher nicht wieder eingepreist wird, wo die FAZ doch sparen muss.
Für den ausgezeichneten Journalisten Schümer bedarf es derweil nicht der Bekanntschaft mit dem Oberoberboss von Springer (Döpfner im Schirrmacher-Nachruf: "Später sind wir dann noch mit Dirk Schümer zusammen in die Villa Massimo gegangen") – er kann den neuen Arbeitgeber mit einer Qualität überzeugen, die so einzigartig ist, dass Welt-Chefredakteur sie in seiner Begrüßungsbegründung nur durch eine rhetorische Frage angemessen beschreiben kann:
"'Welt'-Chefredakteur Jan-Eric Peters: 'Wer könnte uns den Sinn und bisweilen auch den Unsinn eines vereinten Europa besser vermitteln als Dirk Schümer? Politik, Musik, Literatur oder bildende Kunst – das Spektrum seines Wissens und seiner Erfahrungen ist überwältigend. Mit sprachlicher Brillanz und seltener Begeisterungsfähigkeit versteht er es, seine Leser zu fesseln. Wir freuen uns auf ihn.'"
Zurecht. Als Reverenz liefern wir noch jene Schümer-Stelle aus dem Schirrmacher-Nachruf nach, die wir seinerzeit aus dramaturgischen Gründen ausblenden mussten (kurz unterm Linkkasten):
"Schnupperte kundig am Abendland und schaute dabei mit diesem Epochenblick in eine unbehauste Zukunft, die er sich fast noch plastischer vorstellen konnte als die steinernen Relikte der Vergangenheit."
Nun aber raus ausm Gossip und ran an die Buletten. Stefan Niggemeier hat wieder einmal getan, was Stefan Niggemeier tun muss: Kundig an einer allzu leicht übernehmbaren Information geschnuppert und mit diesem Epochenblick des gesunden Menschenverstands in die doch prekäre Gegenwart besagter Information geschaut.
Oder kürzer gesagt: Zweifel haben, wo Zweifel naheliegen.
Es geht in Niggemeiers jüngstem Blog-Post, um die gestern auch hier unkonjunktivisch wiedergegebenen Ergebnisse der linguistischen Studie von Prof. Monika Schwarz-Friesel (via stern.de). Der Tenor, wie ihn die Wissenschaftlerin etwa im Gespräch mit Zeit-Online wiedergibt:
"Im Gegenteil, die deutschen Medien kritisieren kaum ein Land so oft wie Israel. Wir haben die Berichterstattung über den Nahen Osten mit Artikeln über die Lage der Menschenrechte und Konflikte in anderen Ländern verglichen, wie Russland, China, Saudi-Arabien und Nordkorea. Kaum eines der Länder schnitt so schlecht ab. In den Artikeln finden sich ungewöhnlich viele NS-Vergleiche, es gibt ein sehr negatives Bild des Landes."
Niggemeier, quasi als Antwort:
"Ich bin nicht sicher, ob das stimmt. Vor allem aber habe ich Zweifel an der Studie und an ihrer Darstellung durch den 'Stern'."
Niggemeiers Skepsis entzündet sich an Begriffen wie "Verbrecherstaat" oder "Unrechtssystem":
"Der Gedanke erscheint mir völlig abwegig, dass deutsche Medien über Israel als 'Verbrecherstaat' schreiben könnten, wollten, würden; dass es da überhaupt etwas an Artikeln zu zählen gäbe, wie der 'Stern' suggeriert. Tatsächlich schreibt mir Schwarz-Friesel auf meine Anfrage, dass ihr Team nicht nur regionale und überregionale Zeitungen nach solchen Begriffen durchsuche, sondern auch die Kommentarbereiche von Online-Zeitungen. Das allerdings glaube ich sofort, dass die Menschen dort in solcher Weise gegen Israel hetzen. Das ist aber doch ein völlig anderer Untersuchungsgegenstand als 'Artikel' in 'Medien', wie der 'Stern' schreibt."
Führt zu der Frage, was solche quantitativen Untersuchungen aka Korpusanalysen wie die Schwarz-Friesel überhaupt aussagen können. Dazu gibt es in den Kommentaren unter Niggemeiers Text hübsche Meinungen. Etwa von "Belles Lettres":
"Die moderne Linguistik braucht wie jedes Massenfach ein Teilgebiet, in dem Studenten eingelagert werden, die anspruchsvolle Forschung nicht verstehen. Zu meiner Studienzeit war das noch die Semantik, heute ist es die Korpuslinguistik."
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Gleichzeitig sind solche Untersuchungen, die dank des technischen Fortschritts ja auch immer leichter zu erheben sind, total medienaffin: Sie sind, wie die Quotentriumphe und Tagessiege, zwecks Statistik leicht abbildbar und kommen zudem hochbedeutungsvoll daher (Wissenschaft!). Vielleicht könnte eine findige Studentin von Prof. Lilienthal einmal zum Gegenschlag ausholen und die Zunahme der Korpusanalyse als Generator von News abzählen.
Ein weiterer Bei-Niggemeier-Kommentar von "Daniel" leitet über zum anderen medialen befeuerten Krisenherd dieser Tage:
"Mein momentaner Eindruck ist eigentlich, dass in Deutschen Medien nur ein Land extrem einseitig schlecht dargestellt wird: Russland."
Und in dieser Sache ist ein neuer Tiefpunkt erreicht, was sich schon daran zeigt, dass Christian Geyer in der FAZ einen dazu bringt, Gabor Steingart zu loben. Der hatte in seinem – so heißt das bei uns Business-Makern – "Morning Briefing" einen FAZ-Kommentar von Reinhard Veser so kommentiert:
"Die Sätze lesen sich wie geistige Einberufungsbescheide. Die Lehre Nummer eins der Vergangenheit scheint bei den geschätzten Kollegen vergessen: Kriege beginnen immer damit, dass man sie denkt."
Daraufhin antwortet nun Geyer in einer Weise, die geeignet ist, jeden Respekt vor ihm zu verlieren:
"Wenn es eine Regel Nummer 1 gibt, die sich der Vergangenheit entnehmen lässt, dann doch wohl diese: Die Zivilisation ist eine dünne Decke. Wo sie von den Putins dieser Welt mit Gewalt zerrissen wird, muss der Westen die wirtschaftliche, politische und militärische Abwehrbereitschaft stärken und auch demonstrieren. Wie soll man diesen Appell anders lesen denn als Maßnahmenbündel zur Friedenssicherung?"
"Den Putins dieser Welt", "der Westen", "stärken", "Maßnahmebündel" – man braucht keine Langzeitkorpusanalyse auszurichten um zu verstehen, dass solche Begriffe Projektionen sind, Lügen bemänteln, Ideologie performen. Und es kann keine gute Nachricht sein, dass die aktionistischen Textbausteine der bellizistischen Leitartikler im Feuilleton ankommen.
Normalerweise müsste ein Mann vom Reflektionsvermögen Geyers doch Texte verfassen wie Matthias Krämer, der auf Carta in einem langen Eintrag die Absurdität dieser Tage gründlich argumentiert, in der – das ist jetzt unsere zugespitzte Wahrnehmung – der gleiche Bundespräsident, der ergriffen was aus 100 Jahren Erster Weltkrieg gelernt haben will, auf totalsympathischen Sicherheitskonferenzen vom Krieg faselt.
Krämer schreibt:
"Wenn 'Der Spiegel' hinter einem Titelblatt mit der Aufschrift 'Stoppt Putin jetzt!' einen Leitartikel 'Ende der Feigheit' überschreibt und darin anonym fordert, 'Europa muss Putin für den Abschuss von Flug MH17 zur Rechenschaft ziehen', dann fühle ich mich zuerst an Zeitungen erinnert, die 1914 zum Krieg gegen Serbien riefen, um den ermordeten Thronfolger Franz Ferdinand zu rächen. Die Frage, 'Wer ist der Kriegstreiber?', mit der 'Der Spiegel' alle Verantwortung von sich weisen und auf den ausgemachten Bösewicht Putin schieben wollte, erscheint ob der naheliegenden Antwort allzu ironisch."
+++ Respekt für Joachim Huber, der für den Tagesspiegel ausführlich über Weiterungen im Fall "Topunabhängige Qualitätsjournalisten vs. ZDFs Die Anstalt" (zuletzt: Altpapier von gestern) berichtet – obwohl (Spaßvögel würden sagen: gerade weil) TSP-Kolumnist Josef Joffe an der Einstweiligen Verfügung gegen die Sendung in der Mediathek mitgewirkt hat: "Das ZDF ging jedoch weiter als verfügt – nicht nur der Beitrag, die gesamte Sendung wurde entfernt. Patrick Breyer, er ist Abgeordneter und rechtspolitischer Sprecher der Piratenfraktion im Schleswig-Holsteinischen Landtag, kritisiert das rigorose Vorgehen der Anstalt. 'Dass kritische politische Berichte plötzlich spurlos aus dem Internet verschwinden, kennt man eigentlich nur aus autoritären Staaten. Mit Transparenz hat das nichts zu tun.'" Wenn Harald Staun, wie gestern vermeldet, die pauschale Kritik der Sendung "kontraproduktiv" nannte, so kann man auch gegenteiliger Meinung sein: Immerhin gibt es nun einen Anlass über Verbindungen zu sprechen, von denen die führenden Zeitungen des Landes normalerweise schweigen (weil alle betroffen sind). Man kann sich auf die Gerichtsverhandlung am 19. September, die Joffe und Bittner bewirkt haben, in diesem Sinne freuen. +++
+++ Bisschen Hoffnung gibt's auch: Auf Seite 9 der FAZ, direkt über Geyers Beitrag, schreibt der amerikanische Jude Jason Stanley über die Möglichkeit von Versöhnung am Beispiel der eigenen Familiengeschichte und seines Lebens in Berlin: "Wenn man heute über Israel nachdenkt, ist es besser, die Erfahrung meiner Mutter als die meines Vaters im Sinn zu haben. Es ist verständlich, dass diejenigen, die Erfahrungen gemacht haben, die denen meiner Mutter gleichen, daraus den Schluss ziehen, dass die Juden weltweit gehasst werden und deshalb nur in einem von ihnen bewohnten Staat sicher sind." +++ Deniz Yücel adressiert in der TAZ ein "Du", das es bestimmt gibt, das von diesem Text aber wohl kaum erreicht wird: "Sicher lehnst du den Antisemitismus ab. Aber du kapierst nicht, dass 'Schindlers Liste' Geschichte ist und nun der Staat Israel an die Stelle dessen getreten ist, das früher 'Weltjudentum' hieß. Und diesem winzigen Flecken Erde, dem Staat der Überlebenden, hast du am allerwenigsten Ratschläge zu erteilen. Du am wenigsten." +++
+++ Eine unerhörte deutsch-jüdische Familiengeschichte, in der es auch nach dem Holocaust noch Umgang mit SS-Nazis gibt, erzählt Arnon Goldfinger in seinem Dokumentarfilm "Die Wohnung" (ARD, 22.45 Uhr). Sie ist so verwickelt, dass die Kritiken zumeist aus Inhaltswiedergaben bestehen. Zu den Urteilen. Kersten Augustin in der TAZ: "Vielleicht wäre 'Zwei Wohnungen' der passendere Titel gewesen, denn Goldfinger stellt bei seinen Recherchen auch das Haus der Familie des SS-Offiziers auf den Kopf." +++ Lena Bopp in der FAZ (S. 13): "Dieses Befremden [ob der Gleichgültigkeit der Mutter, AP] übersetzt Goldfinger in seiner staunenswerten Dokumentation, indem er detailliert zeigt, wie er sich von einem wunden Punkt zum nächsten tastet." +++ Hans-Jörg Rother im TSP: "Arnon Goldfinger inszeniert seinen Film wie einen Krimi. Er sammelt Beweisstücke, um sie dann der Mutter unter die Nase zu halten. Bei der ähnlich ahnungslosen Tochter Mildensteins in Wuppertal führt er sich als harmloser Besucher mit einem Blumenstrauß ein, um dann Stück für Stück an der Vaterlegende zu kratzen." +++ Der Blumenstrauß ist übrigens ein Beispiel dafür, wo die Projektionen vom "Die" losgehen, bei Kersten Augustin in der TAZ stand da nämlich: "Immer wenn Goldfinger einer neuen Spur folgt und vor der Tür einer deutschen Reihenhauses steht, hält er etwas unbeholfen einen Blumenstrauß in der Hand. 'Die Wohnung' lebt auch von jüdischer Komik." Könnte sie nicht auch einfach nur von Komik leben? +++
+++ Heribert Prantl schreibt in der SZ viel Text, um mit einem Gewährsmann zu erklären, dass Edward Snowden keine Straftat begangen hat: "Das Recht darf nicht Unrecht schützen. Der große sozialdemokratische Jurist Adolf Arndt hat das 1963 in der Neuen Juristischen Wochenschrift schön beschrieben." +++ Hans-Hermann Kotte orientiert ebenfalls in der SZ (Montagsausgabe, Seite 21) aus Anlass der Einstellung von Du & Ich über die Lage von Schwulenmagazinen: "Mit dem Ende von Du&Ich und der gefährdeten Zukunft von Männer spiele sich hier etwas ab, so Rehberg, das auch im übrigen Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt zu beobachten sei. 'Es gibt eine verstärkte Aufspaltung in Billigprodukte einerseits und hochwertige, bald buchähnliche Zeitschriften andererseits.' Für ihn haben schwule Blätter dennoch eine Zukunft, wie die international gehandelten queeren Fanzines, allen voran das niederländische Butt. 'Für mich sind diese Magazine der interessanteste Ort schwuler Publizistik, weil es genau um die Kernfragen schwuler Kultur geht: Identität und Sexualpolitik, jenseits von gesetzlicher Gleichstellung und Homoehe.'" +++
+++ Noch zwei lustige Sachen zum Schluss: Stefan Niggemeier hat für Bildblog nachgefragt, wie es zur eigentlichen Meldung des Tages – Kanadas Premier folgt Homer Simpson nicht mehr auf Twitter – kommen konnte: "Daniel Jahn, der Chefredakteur von AFP in Deutschland, antwortet: 'Unsere Meldung über Stephen Harper und Homer Simpson basiert auf einer Meldung des AFP-Büros in Montreal. Wir versuchen derzeit, durch Kontaktaufnahme mit den dortigen Kollegen herauszufinden, wie die Meldung zustande gekommen ist. Dies ist wegen des Zeitunterschieds leider nicht auf die Schnelle möglich, das Büro ist derzeit nicht besetzt. Es ist nicht auszuschließen, dass Harper zwischenzeitlich Simpson 'entfolgt' ist, um ihm wenig später wieder zu folgen. Wenn ich Näheres weiß, melde ich mich wieder bei Ihnen.' Wir werden eine eventuelle Antwort hier natürlich zeitnah weiterreichen, auch wenn unsere Kapazitäten — anders als offenbar die von AFP — vermutlich nicht ausreichen, jeden möglichen Statuswechsel im Twitter-Verhältnis zwischen kanadischen Politikern und amerikanischen Comicfiguren bekannt zu geben." +++ Und, Trommelwirbel, das mit dem Jugendkanal der ARD könnte doch eventuell tatsächlich noch was werden vor 2020. Torsten Zarges auf dwdl.de: "Erst im Oktober werden sich die Ministerpräsidenten erneut mit dem Mammutprojekt befassen, nachdem sie ihre Entscheidung bereits zweimal vertagt haben. Zu dürftig war ihnen das von ARD und ZDF vorgelegte Konzept bisher ausgefallen, zu viele offene Fragen und Widersprüche. Mal ganz davon abgesehen, dass noch längst nicht alle Länderchefs von der generellen Notwendigkeit eines solchen Angebots überzeugt sind. Bestenfalls geben sie im Oktober grünes Licht – selbst dann ist ein Sendestart vor Anfang 2016 unrealistisch." Stellt sich die Frage, ob die Jugend von heute dann nicht zu alt ist. +++
Neues Altpapier gibt's morgen wieder.