Und wie sie beschrieben werden: Zahlen muss man auch deuten können. Heute: IVW-Aktualisierungen über die Auflagenentwicklungen. Sparvorgaben für BBC, ZDF und RB. Außerdem ein Streit um die "Privatsachen" von schwulen Politikern.
Lieblingslektüre des Tages: eindeutig Jens Schröders Kärrnerarbeit um die neuesten IVW-Zahlen herum auf Meedia.de.
Das Tolle daran ist weniger die Erkenntnis aka Botschaft, die in der Überschrift recht drastisch formuliert wird:
"Zeitschriften-Auflagen im freien Fall"
Die Größe steckt hier vielmehr im Detail, der Sprache, in die Schröder die Zahlen übersetzt (die zugleich in schonungslos nüchternen Tabellen präsentiert werden). Diese Sprache nämlich kombiniert Elemente aus Sportkommentar und Wetterbericht in einer Weise, die den aufmerksamen Leser erkennen lässt, woran die Börsennachrichten kranken – an genau dieser Kombination von Sportreportage und Wetterbericht, die, um mal adäquat mit einer Fußballmetapher zu kommen, den Ball so eng am Ball führt, dass man den Blick für den Mitspieler aka das Spiel verliert.
"Die Landlust legte dabei in gewohnter Manier um starke 20,1% zu, verfehlt die Mio.-Marke, die im ersten Quartal übersprungen wurde, allerdings knapp."
Die "Mio.-Marke" als Wassergraben des Mediengeschäfts! Hinter dieser Metapher muss jeder größere Zusammenhang verschwinden. Schon gestern hieß es im Vorgucker – es existierte eine Verzögerung bei der Herausgabe der IVW-Zahlen:
"Petra wächst im Einzelverkauf um 15,1% auf 95.183, die Abos bleiben mit 27.572 stabil."
Sounds like Lyrik von der Wirtschaftsfront, es gibt nichts Schöneres, gerade bei eher instabilem Sommer. Wer sich für "Inhalte" interessiert, kann wiedrum die Überschrift lesen:
"Gute IVW-Starts für Closer & Women's Health"
[+++] Dass Zahlen, ökonomisch gelesen, für jeden einzelnen Journalisten künftig eine größere Rolle spielen, legt ein Bericht in der NZZ nahe. Dort schreiben Kate Nacy und Stephan Russ-Mohl über Aspekte des krisenhaften Berufsbilds, die durch einen Namen stärker ins Bewusstsein gelangen sollen:
"Die Diskussion um die Zukunft des Journalismus wird in den USA seit geraumer Zeit von einem neuen Stichwort beflügelt: Entrepreneurial Journalism. Zwar haben die Protagonisten eines solchen unternehmerischen Journalismus noch längst kein Geschäftsmodell entdeckt, das den Qualitätsjournalismus neu erblühen lassen könnte. Das Schlagwort taugt indes als Wegweiser, den Journalisten nicht mehr übersehen sollten. Sie müssen sich 'neu erfinden', also lernen, unternehmerisch zu denken und sich mit den wirtschaftlichen Realitäten ihres Berufs auseinanderzusetzen."
Wie das konkret aussieht, beschreibt der Text leider nicht. Vor allem wie sich "entrepreneurial journalism" kategorial von der beliebten "Mischkalkulation" des freien Arbeitens unterscheiden, die bereits, mehr oder weniger bewusst, Basis vons Ganze ist.
Zumal der Begriff des "Entrepreneurs" mit Vorsicht zu genießen ist – aus einer ferneren Warte ist er chicste Lipstick der Verhältnisse, in denen das bemitleidenswerte Subjekt, zu dem wir beim Zähneputzen im Spiegel "ich" sagen, doch nur in Abhängigkeit vom Markt existieren kann. Die Autoren scheinen diese Zweifel auch zu haben, weshalb gleich am Ende des ersten Absatzes Entwarnung gegeben wird:
"Womöglich ist allerdings 'unternehmerischer Journalismus' auch Camouflage – eine wohlklingende Umschreibung von Selbstausbeutung."
Auch wenn der Text vom kanonischen Trendtransfer USA --> hierher ausgeht, erkennt er im "Entrepreneur" eher eine weniger dynamisch klingenden Subspecies:
"Die neuen Journalisten würden dann keine dynamischen Unternehmer Schumpeterscher Prägung werden, sondern Fundraiser – oder, um es eindringlicher auf Deutsch zu sagen: Leute, die sich ihr täglich Brot zusammenbetteln müssen. Mit allen gar nicht so neuen Abhängigkeiten, die sich daraus für die Berichterstattung ergeben."
[+++] Neue Zwänge ergeben sich, wo gespart werden muss. Bei der BBC etwa, wo die "Lizenzgebühr in Höhe von 145,50 Pfund im Jahr bis 2017 eingefroren wurde", im Umfang von "700 Millionen Pfund im Jahr", "knapp 20 Prozent des Budgets". Zu entnehmen ist das Christian Zaschkes Bericht in der SZ (Seite 31).
Interessant ist nun, dass bei der BBC nicht (oder auch) die sauteuren Kulturwortprogramme im Radio zusammengestrichen werden und die hochdotierten Low-Budget-Experimente in Spartenkanälen abgesetzt werden, sondern es geht munter ganz oben los – bei den Top-Moderatorengehältern.
"Demnach verdienen 16 Moderatoren mehr als 500000 Pfund im Jahr (im Vorjahr: 19), davon erhalten höchstens sechs (im Vorjahr: höchstens neun) mehr als eine Million Pfund, knapp 1,3 Millionen Euro. Top-Verdiener ist der ehemalige Profi-Fußballer Gary Lineker, der die Sportsendung Match of the Day präsentiert. Er war jüngst auch bei der Fußball-EM als Hauptmoderator im Einsatz. Sein Jahresgehalt beträgt zwei Millionen Pfund."
In dieser Richtung hangelt sich der Text die Verdienstleiter abwärts, wobei nur ein Spaßvogel darauf kommen könnte, solche Sparpolitik auch in Deutschland zu praktizieren. Gleich neben Zaschkes Beitrag findet sich ein Text, in dem die Fantasie von ZDF-Intendant Thomas Bellut aufscheint, 75 Millionen Euro einsparen zu müssen. Die Geldverbrennungsmaschinen "Nachtstudio" und "Blickpunkt" sind, thank God, schon abgestellt.
"Wozu Bellut entschlossen ist, zeigt der Verzicht auf das multimediale Format Der Marker - ausgerechnet das tägliche popkulturelle Vorzeigeprodukt des Digitalsenders ZDF kultur. Es ist die erste bemerkenswerte Streichung in den digitalen Spartenprogrammen, wo beim ZDF jahrelang nur aufgebaut wurde."
Zum Ende von "Der Marker" war an dieser Stelle bereits am Freitag zu lesen.
[+++] Was sich nicht in Zahlen auflösen lässt, ist die Moral. Und da hat sich ein kleiner Streit entsponnen, der, so nichtig er manchem Kommentator erscheinen mag, zentrale Aspekte des gesellschaftlichen Miteinanders berührt.
Chefredakteurin Ines Pohl hat sich nämlich für einen TAZ-Text Jan Feddersens von gestern entschuldigt (der von der Internetseite genommen wurde):
"Politisch wie moralisch ist die sexuelle Orientierung eines Menschen irrelevant. Sie ist Privatsache. Entsprechend sollte sich die taz weder an Zwangsoutings noch an Gerüchten über die sexuelle Orientierung beteiligen. Für den Beitrag, der in der gedruckten Montagausgabe an dieser Stelle erschienen ist, entschuldige ich mich."
Es ging in Feddersens Beitrag um die merkwürdige Antwort von Bundesumweltminister Peter Altmaier (CDU) auf die Frage nach einer fehlenden Partnerin in einem Bums-BamS-Interview:
"Ich bin ein sehr geselliger und kommunikativer Mensch. Doch der liebe Gott hat es so gefügt, dass ich unverheiratet und allein durchs Leben gehe. Deshalb kann in den Archiven auch nichts über eine Beziehung stehen. Ich hadere nicht mit meinem Schicksal. Wenn es anders wäre, wäre ich längst verheiratet oder in einer festen Beziehung. Aber ich hatte und habe immer eine kleine Zahl guter Freunde, mit denen ich über alles reden kann."
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Klingt, indeed, kryptisch, als naive und rüstige Silver-Surferin, adrett, vielseitig interessiert, Hobbys: Reisen, Lesen, Oper, käme man womöglich auf die Idee, Altmaier eine Kontaktanzeige zu schicken mit dem Hinweis, dass in seinem Alter (54) gegen das Gottgebene doch noch gemeinsam zu Felde gezogen werden könne.
Aber nächstliegender scheint schon die Idee, dass eine solch merkwürdige Erklärung eher auf etwas deutet, dass sich Feddersen, wiederum merkwürdigerweise, kaum auszusprechen traute (oder ist es Ironie?):
"Stellt er sich moralisch für den Bundestagswahlkampf auf, um das Thema des Nichtverheiratetseins nicht angeheftet zu bekommen — vor allem nicht durch krass konservative Wähler? Oder meidet er eventuell das Thema H … und das schlimme Sch …-Wort, weil er keine Lust haben könnte, der erste offene H … seiner Partei im Bundesministerrang zu sein?"
Zitiert wird hier nach Stefan Niggemeier, der in seinem Blog mit Frau Pohls Schritt und Herrn Feddersens Text nicht einverstanden ist:
"Ich weiß nicht, ob Peter Altmaier schwul ist. Aber ich finde es — anders als die Chefredakteurin der 'taz' — legitim, darüber zu spekulieren. Der neue Umweltminister hat die 'Bild am Sonntag' wie zuvor schon anderen Medien zu sich nach Hause eingeladen. Er hat sich 'am heimischen Herd' mit einer Pfanne Bratkartoffeln fotografieren lassen. Und er hat die Frage der 'Bild am Sonntag'-Leute beantwortet, warum man 'in den Archiven nichts von einer Partnerin findet'."
Auch wenn mancher Staatsrechtler zu Niggemeiers Apodiktum –
"Natürlich ist es politisch relevant, ob Peter Altmaier schwul ist, wenn Peter Altmaier im Parlament gegen die Gleichstellung von Schwulen stimmt."
– 80-seitige Alternativsichten verfassen könnte, so kann man ihm nicht absprechen, einen Punkt zu treffen:
"Denn die 'sexuelle Orientierung' von Menschen gilt in den Medien nur dann als 'Privatsache', wenn die betreffenden Menschen schwul oder lesbisch sind. Die Information, dass ein Mann mit einer Frau zusammen oder verheiratet ist, gilt hingegen keineswegs als schützenswerte 'Privatsache'."
Queer.de sieht das ähnlich.
[+++] Privatsachen ganz anderer Art veröffentlicht die Website der Film-, Medien- und Kulturzeitschrift Cargo [für dich gelegentlich schreibe] auf ihrer Website – Suchbegriffe, die auf die Website geführt haben. Es ist sehr unterhaltsam:
"'daimler aktie', 'essential killing tits', 'jürgen dollase', 'dildo einführen', 'welche lieder singt hanns zischler in berlin chamissoplatz', 'küssen im dunkeln', 'florian henckel von donnersmarck standesbewusst', 'ich nackt im dunkeln', 'harlan veit ehefrauen', 'tina fey hot', 'hirnwichse', 'ganze welt bewusstlos', 'philipp scheffner katholizismus', 'mutter tochter lecken'."
Der große Jürgen Dollase und "mutter tochter lecken" im Zusammenhang einer Filmwebsite – dieses Internet verblüfft doch immer wieder.
ALTPAPIERKORB
+++ Dass nicht nur das ZDF und BBC sparen müssen, sondern auch Radio Bremen ist einer Meldung im TSP zu entnehmen. +++ Dort steht auch, dass die Tour de France sich bei Eurosport größerer Beliebtheit erfreut. +++ In der Berlin-Frankfurter erinnert Thomas Schuler ausführlich an den Schriftsteller und Journalisten Jörg Fauser, der vor 25 Jahren starb. +++ Benjamin Weber hat für die TAZ versucht, Fausers Istanbul von vor über 40 Jahren wiederzufinden. +++
+++ Im Fernsehen kommt Georg Hafners, Leiter der Abteilung Politik und Gesellschaft beim HR, persönliches Abschiedsstück: "München 1970. Als der Terror zu uns kam" (ARD, 22.45 Uhr). Jochen Hieber ist in der FAZ (Seite 29) ganz begeistert von der "Dernière". +++ And so does Götz Aly in seiner Kolumne in der Berlin-Frankfurter, der auf den Antizionismus der 1968er abhebt, um den es in dem Film geht. +++ In der TAZ berichtet Susanne Knaul, die an den Recherchen beteiligt war von Hafners Suche: "Das Ergebnis ist ernüchternd - zuallererst für den Filmautor selbst, denn es geht um die 'Helden meiner Jugend', um die Kommune 1 und Dieter Kunzelmann, der 'den Bruder des Mannes kennt, der meinen Onkel auf dem Gewissen hat'." +++
Neues Altpapier gibt es morgen wieder.