Ein neun Jahre alter Sat-1-Film ist plötzlich wieder im Gespräch. Und Heinrich Breloer redet über Brecht, Wulff und die Reeperbahn. Nicht zuletzt: Sind die „Grenzposten“ des demokratischen Diskurses eigentlich selbst demokratisch?
Christian Wulff, das muss man ihm nun wirklich lassen, wird unter den Bundespräsidenten wahrscheinlich der einzige bleiben, der von sich sagen kann, er sei in seinem Leben schon mal bei den Dreharbeiten zu einem Film dabei gewesen, der später einen Grimme-Preis gewinnen sollte. Andererseits wünscht sich Wulff mittlerweile vielleicht sogar, er wäre es nicht. Schließlich begann seine freundschaftliche Beziehung zum Filmproduzenten David Groenewold (siehe Altpapier), die nun vielleicht sehr bald dazu führen könnte, dass ... na, Sie wissen schon. Also, diese Beziehung begann mit dem TV-Film „Das Wunder von Lengede“ bzw. „den Dreharbeiten im niedersächsischen Goslar“, wie Welt Online weiß:
„Dort lernen sich der Politiker und der Filmfinanzier kennen. Der von ihm aufgelegte Medienfonds GFP tritt als Koproduktionspartner auf. Man versteht sich. Christian Wulff kommt unter Künstler, Stars und Sternchen. Groenewold nimmt ihn mit. Er wird später sagen: ‚Wir sind eine Oase von chaotischen, kreativen Menschen für Christian, er taucht dann in eine andere Welt ab.‘“
Wulffsche Extra-Formate gibt es derzeit beispielsweise bei Welt Online („Die Wulff-Krise im Live-Ticker“) und Spiegel Online, das eine interaktive „Zeitleiste“ zur Affärenhistorie gebaut hat.
[+++] Es ist erstaunlicherweise nicht schwer, einen Übergang zu finden von Wulff zu Heinrich Breloer, dem - um es mal mit einer Abendblatt-Überschrift zu vereinfachen - „Erfinder des Doku-Dramas“, der heute 70 Jahre alt wird. Schließlich war, die Flapsigkeit sei gestattet, Breloer bei den Dreharbeiten sehr vieler Filme dabei, die später einen Grimme-Preis gewinnen sollten. Außerdem äußert er sich heute im Tagesspiegel-Interview mit Thomas Gehringer auch zu Wulff. Nachdem der Regisseur erwähnt hat, dass sich in den Biographien von Uwe Barschel, Herbert Wehner, Albert Speer und Thomas Mann, mit denen er sich als Regisseur beschäftigt hat, „etwas Wesentliches aus unserer Geschichte verdichtet“ habe, fragt Gehringer, ob „eine Affäre wie die um Bundespräsident Wulff dagegen kleinkrämerisch“ wirke.
„Bei Wulff weiß man noch nicht, wie es zu Ende geht“,
sagt Breloer, weil er zum Zeitpunkt des Gesprächs noch nicht wissen konnte, wie sich die Wulff-Groenewold-Causa entwickelt.
„Aber wenn man die Chance zu einer Tiefenbohrung bei Figuren wie Bertolt Brecht hat, stößt man auf die großen Ströme der Geschichte. Bei Wulff ist unten nichts mehr, da ist Sand, da sind Sie schnell durch.“
Außerdem erzählt Breloer von seiner aktuellen Arbeit, einem geplanten Doku-Drama über Bertolt Brecht:
„Ich glaube, dass man gerade hier die Brecht’sche Methode der Verfremdung auch in der Erzählweise anwenden muss, um die Vielseitigkeit und die Widersprüchlichkeit dieser Person erlebbar zu machen. Aber was ich vielleicht offensiv versuchen sollte: diese Montage der offenen Form ins Kino zu bringen. Man könnte, wenn mir der Brecht-Film sehr gut gelingen sollte, eine Fassung fürs Kino drehen, die dann ein, zwei Jahre vor der Fernsehausstrahlung läuft. Wenn der WDR das erlauben sollte.“
Es hätte aber auch gar nicht viel gefehlt, und wir hätten Filme wie „Todesspiel“ (siehe Screenshot links) oder „Die Manns“, den „aufwendig recherchierten, inszenierten und produzierten Dreiteiler, mit dem er „zum Anfang des Jahrtausends sein Lebenswerk krönte“ (SZ, S. 15), nie zu sehen bekommen. Und warum? Breloer blickt zurück auf die frühen 1960er Jahre, als er in Hamburg lebte:
„Ich habe in der Nähe der Reeperbahn gewohnt, konnte machen, was ich wollte. Ich hätte auch untergehen können.“
Da ich auch mal 13 Jahre in der Nähe der Reeperbahn gewohnt habe, hätten mich da durchaus Einzelheiten interessiert. Eine kürzere Fassung des Gesprächs, in der die Beinahe-Untergangs-Passage gar nicht vorkommt, steht in der Westdeutschen Zeitung. Sowohl Tagesspiegel und Abendblatt als auch die SZ erwähnen, dass Breloers Produktionsarchiv ab heute über die Website der Deutschen Kinemathek zugänglich gemacht wird. Dietrich Leder würdigt in seinem dreiseitigen Text zu Breloers Geburtstag in der Funkkorrespondenz auch dessen Mitstreiter Horst Königstein, weil „der an fast allen eigenen Projekten des Heinrich Breloer beteiligt war“:
„Die beiden gehörten einer Generation an, für die das Fernsehen nicht mehr nur ein Ersatzort für verlorengegangene Plätze und Gelder von Publizistik, Literatur, Kino und Theater war, sondern die es als audiovisuelles Massenmedium mit eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten begriff. (...) Anders als der auf eine gewisse Stilisierung Wert legende Königstein entpuppte sich Breloer in seinem Inszenierungsstil als unbedingter Realist, der seine Schauspieler in die Nähe der Personen führte, die sie darzustellen hatten.“
Eine kleine Stichelei gegen die ARD kann sich Leder nicht verkneifen:
„Im Ersten Programm gilt Breloer seit den ‚Manns‘ als Starregisseur, dem auch der jeweils amtierende ARD-Programmdirektor Kränze flicht. Vergessen die Zeit, als schwächere Quoten der ‚offenen Form‘ für schlechte Stimmung sorgten, wenn der Name Breloer fiel.“
Eigentlich gibt es also verdammt viel zu feiern derzeit. Nein, hier soll jetzt nicht die Rede sein von jenen durch legale Rauschmittel befeuerten Massenmaskeraden, denen sich auch das Fernsehen gern widmet - und manchmal sogar die Medienkritik (siehe dazu etwa den Artikel über die „Mutter aller Fernsehsitzungen“ auf der heutigen FAZ-Medienseite). Vielmehr ist Breloers Geburtstag nach Alexander Kluges 80. am Dienstag (siehe dazu den Hinweis auf ein Porträt und ein Tribute bei Bayern2 in der SZ, S. 15, und natürlich Altpapier) nun schon der zweite runde Ehrentag eines verdienten Haudegens aus dem Kultur- und Medienbetrieb innerhalb einer knappen halben Woche.
[+++] Seit Beginn eben dieser Woche tobt auch ein Feuilleton-Streit, der heute weiter geht. Losgetreten hat ihn Anfang der Woche Georg Diez im Spiegel, als er Christian Krachts Roman „Imperium“ auseinander nahm und den Autor als „Türsteher der rechten Gedanken" bezeichnete. Jörg Magenau schreibt nun in der taz:
„Schluss mit dem, was Debatte zu nennen doch reichlich übertrieben wäre. Denn es geht dabei weniger um Aufklärung als um Aufmerksamkeitsgewinn, weniger um Nazis, als um Narzissmus - und das ist naturgemäß immer der eigene.“
Andererseits, so Magenau
„lohnt es sich, die zentrale Passage in Diez' Artikel noch einmal nachzulesen. Sie lautet: ‚Krachts Koordinaten waren immer Vernichtung und Erlösung. Er platzierte sich damit sehr bewusst außerhalb des demokratischen Diskurses.‘ Das klingt bedrohlich, zeigt aber vor allem, dass Diez nicht nur Krachts frei flottierende Ironie nicht begriffen hat, sondern noch nicht einmal seinen eigenen Text. So sprechen Platzanweiser, die über die Grenzen des demokratischen Diskurses offenbar ganz genau Bescheid wissen (...). Sie entscheiden mit einem Halbsatz darüber, wer dazugehört (...). Diese Differenzierungsarbeit der selbsternannten Grenzposten ist selbst nicht unbedingt demokratisch.“
[listbox:title=Artikel des Tages[Wulff, Groenewold und das Wunder von Lengede (Welt Online)##70 Jahre Heinrich Breloer (Funkkorrespondenz)##Diskurs-Grenzposten Diez gegen Kracht (taz)##Wahres Fußballleben im falschen (FAZ)]]
Im Freitag meldet sich Erhard Schütz zu Wort, der, wie wir am Rande erfahren, gestern „seine Abschiedsvorlesung an der Humboldt-Universität Berlin“ hielt:
„Was Georg Diez in einem Artikel für den aktuellen Spiegel behauptet hat, dass ‚Imperium‘ rassistisch, rechtsradikal, faschistisch etc. sei, ist ziemlich hirnrissig. ‚Imperium‘ ist vor allem eins – glänzende Literatur.“
[+++] Das Thema Griechenland würde, wenn Wulff nicht wäre, heute möglicherweise eine größere Rolle spielen. Harten journalismusbranchenkritischen Stoff rund um die Causa gibt es aber: Jens Berger (Nachdenkseiten) setzt sich ausführlich mit der medialen „Milliardenlüge“ auseinander:
„Wenn man in den letzten Wochen und Monaten die Zeitungen und Zeitschriften verfolgt hat, stieß man immer wieder auf Beiträge (...) in denen in düstersten Farben die möglichen finanziellen Belastungen einer Griechenland-Umschuldung ausgemalt werden.“
Berger nennt als Negativbeispiel einen Beitrag von Spiegel Online und empfiehlt, mal einen Blick in die Satzung der EZB zu werfen. Seine Attacke kulminiert in folgender Passage:
„Der häufig erwähnte Ausgleich der Zentralbankverluste durch den Steuerzahler (existiert) allenfalls in den Köpfen der schreibenden Zunft. An dieser Stelle muss natürlich die Frage gestattet sein, ob die Journalisten und Kommentatoren es nicht besser wissen oder vorsätzlich Lügen streuen. Wenn Letzteres bei einigen Journalisten der Fall sein sollte, muss man natürlich auch nach dem Cui bono fragen – wem nützt es? Die Antwort dürfte nicht schwerfallen. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, die Eurokrise (und hier vor allem die Griechenlandkrise) mittels progressiver Zentralbankpolitik zu entschärfen. Ohne Griechenland- und Eurokrise hätte die Bundesregierung jedoch keinen Hebel mehr, anderen europäischen Ländern ihre neoliberale Politik aufzuzwingen. Nicht nur die Politik, auch Teile der Medien haben anscheinend gar kein Interesse daran, dass Griechenland möglichst schnell wieder auf die Füße kommt.“
[+++] Möglicherweise Ungutes für einen Teil der Altpapier-Leserschaft verheißt ein Artikel von Micha Brumlik in der Jüdischen Allgemeinen:
„Die digitale Berufswelt höhlt die ethischen Fundamente der Gesellschaft aus“,
konstatiert er. Brumlik kritisiert so genannte liquide Arbeitsverhältnisse, also solche, „die die Angestellten dazu bringen, ihrem Betrieb rund um die Uhr eigenmotiviert und widerstandslos zur Verfügung zu stehen.“ Es sei „zu fragen, ob dieser neueste Angriff auf die Stellung von abhängig Beschäftigten mit den bisher in Europa einflussreichen Traditionen – Judentum, Christentum und Aufklärung – vereinbar ist.“ Sein Fazit:
„Die allseitig verfügbare, liquide Arbeitskraft (...), die in scheinsouveräner Selbstständigkeit ihre Arbeit im digitalen Kapitalismus zu jeder Zeit und an jedem Ort verrichtet, begibt sich in ein neues Gehäuse der Hörigkeit.“
Altpapierkorb
+++ Auf den Sieg der Bauer-Verlags gegen den Bundesverband Presse-Grosso vor dem Landgericht Köln (siehe Altpapier) geht die taz heute gleich mit zwei Texten ein. Daniel Schulz kommentiert: „Vom Internet lernen, heißt verstehen lernen. Im digitalen Raum haben Bürgerrechtler kapiert, wie wichtig es ist, dass alle Informationen gleich schnell durchgeleitet werden. (...) Viele Aktivisten kämpfen für ‚Netzneutralität‘, demonstrieren immer wieder im Internet und auf der Straße. In der analogen Welt gibt es noch Nachholbedarf. Von Demonstrationen ist nach der Entscheidung zum Pressegrosso vor dem Kölner Landgericht nichts bekannt. Dabei geht es auch hier um Netze, die Informationen weiterleiten - nur arbeiten die Grossisten mit Lkws.“ Der andere Text ist von mir.
+++ Mehr zu Medien & Recht, ebenfalls in der taz: Zur jüngsten Entscheidung des Oberlandesgerichts Köln, wonach Gerichtsreporter nicht über alles berichten dürfen, was in einer Verhandlung, also öffentlich, zur Sprache gekommen ist (siehe Altpapier, außerdem meedia.de), äußert sich der Berliner Rechtsprofessor Volker Boehme-Neßler. Er ist sich „sicher, dass das Urteil vom Bundesgerichtshof geändert wird“.
+++ Wer hatte die Nachricht, dass ein Moderator des ZDF höchstwahrscheinlich in ein paar Monaten eine Sendung des ZDF moderieren wird, als erster, und wer tat nur so, als ob? meedia.de rekapituliert eine „Exklusiv-Posse“.
+++ Hans Hoff hat sich unter „unter ärztlicher Aufsicht“ „Schwiegertochter gesucht“ angeschaut, „diese Sendung gewordene RTL-Lüge“ (Prisma-Blog).
+++ Was YouTube, Hulu, Netflix und Co. an originären Web-TV-Formaten planen, weiß das Wall Street Journal.
+++ Die Jungle World hat mit dem marokkanischen Journalisten Omar Radi, der auch Mitglied von Attac und der Menschenrechtsorganisation Association Marocaine des Droits de l’Homme ist, über die eingeschränkte Pressefreiheit in seinem Land, gesprochen; „Journalisten oder Künstler müssen noch immer ins Gefängnis und bekommen keine fairen Prozesse. (...) Unter König Hassan II. in den neunziger Jahren war die ohnehin geringe Pressefreiheit sogar größer als jetzt. Das spürt man als Journalist, aber auch als Leser tagtäglich. (...) Wenn es beispielsweise um die Berichterstattung über soziale Bewegungen geht, werden marokkanische wie ausländische Journalisten – ich mit eingeschlossen – von der Polizei belästigt, man verunmöglicht unsere Arbeit.“
+++ Ein für eine Medienseite recht untypisches Stück präsentiert uns Jochen Hieber in der FAZ: „Es gibt ein wahres Fußballleben im Falschen“ ist in erster Linie eine feuilletonistische, teilweise spielberichtartige Nachbetrachtung der am Mittwoch bei Sat 1 zu sehenden Partie AC Mailand - FC Arsenal (4:0): „Im Fußball kann auch etwas wirklich Falsches und zutiefst Trauriges richtig schön und gerecht sein, also selbst der Sieg des AC Mailand gegen den FC Arsenal am Dienstagabend im Achtelfinal-Hinspiel der Champions League.“ Das Falsche hat, das sei noch gesagt, etwas mit einem Medienunternehmer zu tun, weshalb der Text dann irgendwie doch zu Recht auf der Medienseite steht.
+++ „Lecker Hessen“; „Die unglaublichsten Tiere der Hessen“; „Die 100 besten Hessenwitze“, „Dampfloks in Hessen“ - die regionalpatriotismusbesoffensten ARD-Anstalt scheint der HR zu sein. Die Funkkorrespondenz hat Sendungstitel zu diesem Thema gesammelt.
Neues Altpapier gibt es wieder am Montag.