Kluge und Kirch sind die Männer des Tages - der eine, weil er 80 wird, und der andere, obwohl er schon tot ist. Außerdem: Haben die Medien aus der Neonazi-Mordserie zu wenig Konsequenzen gezogen?
„Das teuerste Fernsehinterview der Welt“ führte zu „einer der größten und härtesten Auseinandersetzungen in der deutschen Wirtschaft“ - und die geht „nun ihrem Ende entgegen“. Wenn man eine Überschrift eines Artikels von Wirtschaftsressortchef Hans-Jürgen Jakobs für die heutige SZ-Meinungsseite und einen Teil eines Vorspanns zu einem Artikel des Ressortkollegen Klaus Ott zusammenfasst, dann hat man ungefähr die Essenz des Themas der Tages. Zwischen der Deutschen Bank und den Erben Leo Kirchs steht ein außergerichtlicher Vergleich bevor, dank der Zahlung von 800 Millionen Euro soll der Rechtsstreit, den 2002 ein Interview des damaligen Bankchefs Rolf Breuer mit Bloomberg TV auslöste, zu einem Ende kommen. Ott schreibt:
„Erst vor einem Jahr waren vom bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer (CSU) initiierte Schlichtungsgespräche gescheitert. Damals hatte die Deutsche Bank eine Vergleichssumme in Höhe von 900 Millionen Euro abgelehnt. Nun käme die Deutsche Bank etwas billiger weg. (...) Etwa die Hälfte der 800 Millionen Euro soll an Gläubiger Kirchs fließen, darunter die Commerzbank, die HypoVereinsbank, die Bayerische Landesbank und mehrere Filmstudios aus Hollywood.“
Die FAZ zitiert noch einmal aus dem Interview, „das Leo Kirch in den Ruin begleitet“ habe. Nachdem der Bloomberg-Mann sagt: „Die Frage ist ja, ob man ihm hilft, weiterzumachen", folgt Breuers laut FAZ „problematische“ Äußerung:
„Das halte ich für relativ fraglich. Was alles man darüber lesen und hören kann, ist ja, dass der Finanzsektor nicht bereit ist, auf unveränderter Basis noch weitere Fremd- oder gar Eigenmittel zur Verfügung zu stellen.“
Für Michael Hanfeld, der die Causa auf der Medienseite der FAZ kommentiert und dabei noch einmal die einstige Bedeutung Kirchs skizziert, ist dies der „tödliche Satz“. Kirch, schreibt er,
„war in seinen besten Tagen sogar dem Springer-Konzern gefährlich, in den er als Teilhaber einmarschieren wollte. Doch gründete Kirchs Expansion auf einem verschachtelten Kreditsystem, das ihm schließlich zum Verhängnis wurde. Springer schüttelte ihn ab, die Deutsche Bank spielte eine Schlüsselrolle.“
Möglicherweise hat Hanfeld schon eine Idee für eine TV-Verfilmung, aber damit muss man bei einem Medienressortchef ja rechnen:
„Einen besseren Stoff für einen Wirtschaftskrimi und für ein Drama nationalen Zuschnitts kann man sich gar nicht ausdenken.“
Hanfeld schreibt auch, und das klingt doch schon sehr drehbuchmäßig:
„Leo Kirch hätte verdient gehabt, das noch mitzuerleben.“
Hans-Jürgen Jakobs weist in dem bereits erwähnten Meinungsseiten-Beitrag der SZ darauf hin, dass die Deutsche Bank „mit Sicherheit“ nicht „die allein Schuldige an dem Fiasko“ gewesen sei:
„Tatsächlich war das Film- und Fernsehimperium Kirchs ja aus vielen Gründen zusammengebrochen: wegen wackelnder Kredite anderer Banken, wegen horrender Zahlungen für Filmlizenzen und für Sportrechte, wegen Missmanagement und einer alten Zahlungsverpflichtung über 770 Millionen Euro, die der einst mit ihm verbundene Axel Springer Verlag mit erstaunlicher Beharrlichkeit eintrieb.“
Die Börsen-Zeitung stellt fest, dass Breuer in seinem Interview 2002 lediglich „etwas ausgesprochen hatte, das man vorher in der Zeitung lesen konnte“. Mit dem Vergleich kann sich das Blatt nicht anfreunden:
„Welche Garantie hätte die Bank überhaupt, dass die Sache damit wirklich ausgestanden wäre? Mit einem zivilrechtlichen Vergleich kann sie sich nicht von staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen (...) freikaufen. Sie wäre auch nicht dagegen gefeit, dass Trittbrettfahrer, die angeblich gar nichts mit Kirch zu tun haben, das Thema weiter für ihre eigenen Spielchen nutzen und allen drei Organen der Bank auf die Nerven gehen."
[+++] Die SZ hat heute eine Medienseite komponiert, die zum Tagesthema Kirch passt. Der kommt zwar nicht vor, aber dafür wird die Seite von zwei seiner alten Weggefährten dominiert: Zum großen Interview ist Edmund Stoiber angetreten, den „man heute noch für den Kirch-Milliardenkredit vor Gericht bringen könnte“, wie die taz vor noch gar nicht so langer Zeit die Aussage eines bayerischen Ministerialdirigenten a. D. zusammenfasste. Direkt daneben geht es um Rupert Murdochs immer misslicher werdende Lage.
Im SZ-Gespräch haut Stoiber, der „einst aggressive Medienpolitiker“ und heutige „Chef des Programmbeirats der Pro Sieben Sat1Media AG“, eine Top-Anekdote raus:
„Wir haben uns in der bayerischen Staatsregierung schon früh mit Online-Themen beschäftigt und zum Beispiel einen Internet-Beirat gegründet. Damals übrigens kam der Microsoft-Gründer Bill Gates zu mir und sagte im Brustton der Überzeugung: ‚Das wird nichts. Internet ist eine Modeerscheinung.' So kann man sich irren.“
Und ein bisschen kritisch gibt er sich auch, was den Konzern angeht, den er berät:
„Natürlich ist das Unterhaltungsprogramm der Privaten häufig sehr flach, keine Frage. Manches im Nachmittagsprogramm, auch bei den Sendern, die wir jetzt gesellschaftspolitisch beraten, entspricht nicht den Qualitätsansprüchen des Beirats.“
[+++] Murdoch, Kirchs großer alter Rivale, denkt derzeit möglicherweise gern zurück an die Zeiten, als sich die beiden Mogule duellierten. Seine jetzigen Probleme (siehe Altpapier) haben ein anderes Kaliber, er muss „nun fürchten, im Skandal um seine britischen Blätter auch in Amerika verklagt zu werden“, wie Christian Zaschke berichtet:
„Da das Unternehmen seinen Stammsitz in den USA hat, fällt es unter das 'foreign corrupt practices act', welches das Zahlen von Schmiergeldern durch amerikanische Firmen im Ausland unter Strafe stellt. Daraus ergibt sich für Murdoch ein offenkundig bedrohlicher Zusammenhang: News Corp ist eine amerikanische Firma. Die Sun gehört zu News Corp. Mitarbeiter der Sun werden der Bestechung verdächtigt. Es ist also gut möglich, dass wegen der britischen Vorgänge in den USA bald Klage gegen Murdoch eingereicht wird und dass amerikanische Behörden beginnen, wegen Korruption zu ermitteln.“
[listbox:title=Artikel des Tages[Wenn Kirch das noch hätte erleben dürfen! (FAZ)##Kluges Enzyklopädie der Aufklärung (Berliner Zeitung)##Die Schwächen der Berichterstattung über ACTA (Froitzheims Wortpresse)]]
Zaschke schreibt, „die ganze Angelegenheit“ werde immer gefährlicher „für den gesamten Konzern“, und da fragt man sich doch, ob sie bei der DFL noch gut schlafen, denn die braucht ja Murdochs Geld. Im Guardian steht ein anderer Aspekt der Causa Murdoch auf Seite eins, und die taz konzentriert sich auf einen auch von Zaschke erwähnten Kommentar der Sun zu den aktuellen Festnahmen von Redakteuren des Hauses:
„‚Die Journalisten der Sun werden wie Mitglieder einer Verbrecherorganisation behandelt‘, schrieb der stellvertretende Chefredakteur Trevor Kavanagh gestern. ‚Sie wurden Opfer der größten Polizeioperation in der britischen Kriminalgeschichte (...). In anderen Zeiten würde das zu einem Aufschrei im Parlament und unter Bürgerrechtsorganisationen führen."
[+++] Stünden auf der Agenda nicht die juristischen Angelegenheiten, die die Kirch-Erben und Murdoch betreffen, hätte wohl Alexander Kluge, der heute 80 Jahre alt wird, diese Kolumne dominiert. Christian Thomas (Berliner Zeitung) würdigt den Jubilar:
„Mit seinen ‚merkwürdigen‘ Fernsehbeiträgen gegen Mitternacht, die seine Firma DCTP seit 1988 für das Privatfernsehen produzierte, vermachte der ‚Quotenkiller‘ (so ein längst vergessener Intendant) dem Fernsehen eine Enzyklopädie der Aufklärung. Auf Sendung gingen Beiträge über: die Guillotine als humanitärer Fortschritt in der Geschichte der Exekutionen; Christos Reichstagsverhüllung im Zeitraffer; Hannelore Hoger zu Tränen gerührt; Christoph Schlingensief am Anfang seiner Karriere; den Fotografen von Tschernobyl; den Kalten Krieg in der Affenwelt; den Weltwirtschaftsgipfel, den Ameisenstaat; Lulu als Oper; Atlantropa – oder die Trockenlegung des Mittelmeers; Lenins Knochen; die Stasi auf kapitalistischer Kaffeefahrt; die Welt als Wetterküche; die Bühnenbilder Eric Wonders. Denn ‚merkwürdig‘ bedeutet ja so eigensinnig wie erinnerungsträchtig, so wunderlich wie beharrlich.“
Wir hätten in die Aufzählung noch das letztjährige Interview mit Helge Schneider (siehe auch Screenshot) eingefügt. Jürgen Kaube beschreibt die TV-Arbeiten Kluges im FAZ-Feuilleton folgendermaßen:
„Wie der Arzt, der auch Haus- und Nachtbesuche macht, betreibt Kluge das für ihn allerdings weit einträglichere Geschäft der Nachtaufklärung durch Minutengespräche im Privatfernsehen. Hier möchte er dem alles verschlingenden Chronos Zeitlücken abgewinnen. In den Massenmedien fehle der ‚Glückswechsel zum Guten‘, sie tragen für Kluge der Tatsache zu wenig Rechnung, dass der Mensch mehr Glück als Verstand habe. Sie zapft insofern oft schwächere Kräfte – Neugier, Konformismus, Vorurteile – an, als es möglich wäre.“
Es folgt ein wuchtiger Satz, ein gehobener Kalenderspruch:
„Das Privatfernsehen ist gar keines, der Atem des Privaten kommt in ihm und seinen Schablonen so wenig vor wie die Öffentlichkeit im öffentlich-rechtlichen.“
In der taz kümmern sich gleich drei Autoren mit Kluge - einer der Texte endet mit dem Ausruf „Aciiid!“, weil der Gewürdigte auch zu der Tanzmusik des späten 20. Jahrhunderts etwas Substanzielles zu sagen hat. Und schließlich Fritz Göttler in der SZ:
„Es ist kein Archiv, was Kluge, seitdem er Fernsehen und Internet macht, zusammenträgt, lieber ist ihm der Begriff des Gartens. Er möchte die Tradition der gärtnerischen Architekten, die Ende des 18. Jahrhunderts tätig waren, wieder reaktivieren im Internet. Das wird am Ende auch das Lesen verändern, es freier und ambulativer machen.“
Nicht verschwiegen sei, dass es in der Medienbranche durchaus Menschen gibt, die nicht damit einverstanden sind, dass die zuständigen Landesmedienanstalten in Rheinland-Pfalz und Niedersachsen Kluge auf den so genannten Drittsendeplätze bei RTL und Sat 1 seine Gärtnereien ermöglichen. Alle fünf Jahre toben ja im Zuge der Vergabeverfahren medienpolitische Diskussionen. Worum es derzeit konkret geht, fasste kürzlich dwdl.de zusammen.
Altpapierkorb
+++ Daniel Bax kritisiert in der taz, die Medien hätten aus der Neonazi-Mordserie weniger Konsequenzen als „die Politik“: „Nach dem Schock von ‚Zwickau‘ wäre es doch immerhin denkbar gewesen, dass sich ein paar Journalisten nun stärker den eigenen Vorurteilen stellen, die ihren Blick auf die Welt und ihre Berichterstattung bisher getrübt haben. Doch von einer vergleichbaren Bestürzung, Selbstbefragung, ja gar Selbstkritik wie bei Politikern und Sicherheitsbehörden fehlt bei den meisten Medien bislang fast jede Spur.
+++ Ist es nun überraschend, was Lorenz Jäger heute unter der Überschrift „Genießt doch den Zauber des Unvollkommenen!“ über „Gottschalk Live“ in der FAZ schreibt, oder ist es mediengesetzmäßig nur logisch, dass nach all den Verrissen jemand eine überkandidelte Eloge anstimmt? Die geilsten Sätze lauten: „Es gibt im deutschen Fernsehen derzeit kaum Schöneres, im Vorabendprogramm schon gar nicht. (...) Gottschalk versöhnt uns nachträglich mit dem Nichtperfekten, mit dem Subjektivismus und Spiritualismus der Wohngemeinschaften der siebziger Jahre.“
+++ Der beste Teil der Grammy-Verleihung lief nicht im Fernsehen: In einer Werbepause dichtete die Siegerin Adele ihren Song „Someone like you“ zu einer Attacke auf die Präsidentschaftskandidaten-Pappnase Newt Gingrich um: „Please just quit politics, and find some more girls to bed“
+++ Ulf Froitzheim (Froitzheims Wortpresse) ärgert sich über die Unzulänglichkeiten der Berichterstattung über ACTA, insbesondere darüber, dass das Abkommen auf urheberrechtliche Aspekte reduziert wird: „ACTA ist (...) kein Urheberrechtsabkommen, sondern ein umfassendes Anti-Piraterie-Abkommen, bei dem es unter anderem auch um Urheberrecht geht – neben Markenrecht, Patentrecht, Geschmacks- und Gebrauchsmusterschutz oder Leistungsschutzrecht. (...) Kurzum: Es ist schlimm genug, dass die hinter den ACTA-Bestrebungen stehenden Staaten Dinge in einen Topf werfen, die man besser getrennt verhandelt hätte. Da müssen Journalisten es nicht noch schlimmer machen, indem sie den Lesern diesen ungenießbaren Eintopf unter dem Namen einer an sich guten Zutat (Urheberrecht) vorsetzen."
+++ Der Standard berichtet, dass sich zahlreiche Prominente wie der Karikaturist Gerhard Haderer und die Regisseurin Andrea Breth dem Protest gegen den „systematischen Rechtsbruch“ beim ORF angeschlossen haben. „Stiftungsräte verstießen durch Fraktionsbesprechungen mit aktiven Politikern gegen die Gebote von Unabhängigkeit und Verschwiegenheit“, schreibt das Blatt. Außerdem habe es „Absprachen bei der Bestellung des Technikdirektors, seines Vizes und von vier Landesdirektoren“ gegeben.
+++ Mit der Berichterstattung zur Abwahl des Oberbürgermeisters Adolf Sauerland in Duisburg beschäftigt sich Dietrich Leder bei funkkorrespondenz.de- und macht dabei auch einen Schlenker zu Christian Wulff. Zu Sauerland und Wulff siehe auch diesen Witz.
+++ Apropos Wulff: Frank Lübberding schreibt in einer auch diverse aktuelle Zeitungsberichte aufgreifenden FAZ-Frühkritik zu „Hart aber fair“, Michael Spreng, Thomas Oppermann und Benjamin Stuckrad-Barre hätten sich dort „gegen die Inszenierung des Wulffschen Zeremonienmeisters Peter Hintze wehren“ müssen. „Aber das ist schwierig in einem solchen Format, wenn der Unterschied zwischen Lüge und Wahrheit aufgehoben wird“. Die Talk-Shows seien „zu den Arenen geworden, wo die Schlacht um die Festung Bellevue ausgetragen wird. Auch eine gute Sendung wie gestern kann sich dieser Logik nicht entziehen“.
+++ Kurt Sagatz empfiehlt im Tagesspiegel die arte-Doku „Wikileaks – Geheimnisse und Lügen“, die das zerrüttete Verhältnis von Julian Assange zu seinen Medienpartnern beschreibt
+++ Wozu das soziale Netzwerk Pinterest gut ist, das ja einige für den heißesten Scheiß seit was auch immer halten, weiß Mediashift.
+++ Die Comic-Journalistin Susie Cagle erläutert, warum sie nicht bereit ist, unbezahlte Arbeit für andere Journalisten zu erledigen.
+++ Andere Länder, ähnliche Klagen über den Verfall des öffentlich-rechtlichen Fernsehens - aber schönere Polemiken: Laurie Penny (The New Statesman) kritisiert eine BBC-Produktion über die Queen: „Whether or not the Queen herself is a lovely old lady with a fantastic array of hats is beside the point. This is not history. This is masturbation, and Britain is in too much trouble right now to sit around playing with itself.“
+++ Wer einmal etwas Optimistisches zur Zukunft der Tageszeitungen lesen möchte: In Italien boomt der Markt (Journal 21). Die taz schreibt dagegen über die siechenden Blätter des Landes.