Wie verlaufen die Phasen der Bewusstseinsbildung im Netz? Inwiefern werden Journalisten hier zu Lande bei historischen Recherchen behindert? Außerdem: das medienaktionistische Genre der performativen Kritik.
Es ist gerade erst knapp acht Monate her, dass es Anlass gab, im Altpapier auf die irritierende Begebenheit einzugehen, „dass Herr- und Frauschaften von der Bild-Zeitung neuerdings Journalistenpreise verliehen bekommen“. Im Mai 2012 könnte das Boulevardblatt dank der Berichterstattung über Christian Wulffs Privatkredit (siehe auch Altpapierkorb) nun sogar einen Henri-Nannen-Preis kriegen, jedenfalls steht sie auf der Shortlist, wie meedia.de berichtet. Da fragt man sich doch, warum es eigentlich noch keinen Kai-Diekmann-Preis für irgendwas mit Qualitätsjournalismus gibt. Falls Bild den Nannen-Preis bekommt, müsste der unbedingt eingeführt werden. Und die erste Auszeichung erhält dann Henri Nannen posthum. Das wäre doch nur gerecht. Dann könnten sich alle noch viel lieber haben als jetzt schon.
[+++] Getreu dem Benjaminschen Motto „Immer radikal, niemals konsequent“, nach dem zum Beispiel dieser durchaus auch sehr medienkritische Buchverlag handelt, muss jetzt aber mal etwas Positives über die Bild-Zeitung gesagt werden. Oder besser gesagt: Es besteht ein Anlass, die Frage aufzuwerfen, ob es, eingedenk der generellen Gemeingefährlichkeit der Bild-Zeitung, angemessen ist, in Artikeln, in denen das Blatt ausnahmsweise in einem nicht negativen Kontext auftauchen müsste, einfach nicht zu erwähnen. Das ist eine Frage, die man ja wohl erwarten darf von der verschwurbeltsten Medienkolumne der Republik. Jetzt wird es aber handfest: Bild hat gerade einen wichtigen juristischen Sieg errungen - gegen den BND, einen gar nicht mal so kleinen Gegner. Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, es sei nicht rechtmäßig, dass der Geheimdienst Akten zu Adolf Eichmann, der treibenden Kraft des Holocaust, zurückhält. Freigegeben hatte der BND bisher nämlich nur weitgehend belangloses und stark geschwärztes Material.
Die SZ schrieb gestern in einem mittlerweile auch online verfügbaren Politikressort-Artikel über diese Rechtssache - ohne allerdings die Bild-Zeitung zu erwähnen. Dafür kommt immerhin Christoph Partsch zu Wort, der Anwalt der nicht erwähnten Zeitung. Somit hat man die Klägerpartei mit drin. Kann man machen, könnte man auch clever nennen. Etwas anders sieht es mit einer als Negativbeispiel für die Journalistenausbildung taugenden Meldung des Spiegel aus: Der hat es in dieser Woche fertig gebracht, erstens den Kläger (Bild) nicht zu erwähnen, zweitens einen Anwalt zu zitieren, der die Zeitung gar nicht vertritt, und drittens in dem nicht einmal 1.000 Zeichen langen Text dann auch noch einen selbstgefälligen Hinweis auf eigene Archivrecherche-Aktivitäten unterzubringen, die nicht wirklich etwas zur Sache tun.
Inhaltlich hat die Causa Bild vs. BND laut SZ folgende Dimension, eine tragende Rolle spielt der nationalsozialistische Verwaltungsjurist und spätere Kanzleramtschef Hans Globke:
„Die Informationen, deren Veröffentlichung bisher so machtvoll hintertrieben werden konnte, betreffen peinliche Details aus der Gründungsgeschichte der Bundesrepublik. (...) Konrad Adenauer (...), der selber von den Nazis zeitweise inhaftiert war, trat jederzeit für Globke ein. Daher sieht Anwalt Partsch Adenauer wegen seiner Appeasement-Politik gegenüber Funktionären des alten Regimes als ‚Nazi nach 1945‘. Bei der Weigerung, die BND-Akten freizugeben, gehe es nicht um das ‚Wohl‘ des Bundes, sagt Partsch. Mit einer Freigabe geriete ‚das Monument Adenauer ins Wanken.‘“
Das ist doch mal was! Ein Springer-Anwalt sagt, Adenauer sei in gewisser Weise ein Nazi gewesen. Und Bild hat, wenn die Akten dann endlich bei Springers auf dem Tisch liegen, die Möglichkeit, die deutsche Nachkriegsgeschichte teilweise neu zu schreiben. Zum Hintergrund siehe auch ein älteres taz-Interview von mir, in dem, ja, ich gebe es zu, die Bild-Zeitung nicht negativ erwähnt wird (siehe vor allem vor- und drittletzte Frage).
Willi Winkler, der auch den erwähnten Text im Politik-Teil verfasst hat, greift für die Medienseite der SZ heute einen ähnlichen Fall auf. Erneut geht es um die Behinderung von Journalisten bei Archivrecherchen, erneut auch um Globke:
„Mit Berufung auf das 2005 in Kraft getretene Informationsfreiheitsgesetz (IFG) hat die freie Journalistin Gaby Weber einen Verwaltungsrechtsstreit mit der Bundesrepublik Deutschland begonnen, mit dem sie das Bundesarchiv drängen will, den (...) Nachlass Globkes sowie die Papiere des früheren Vorstandsvorsitzenden Hermann Josef Abs im Archiv der Deutschen Bank anzufordern und damit ihr und weiteren interessierten Forschern zugänglich zu machen. In erster Instanz hat das Verwaltungsgericht Koblenz die Klage eben abgewiesen, gleichzeitig aber die Berufung bei Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz zugelassen.“
Winkler kritisiert:
„So loyal der Beamte Globke auch für den jeweiligen Staat arbeitete, sein Nachlass kam dennoch nicht in das dafür zuständige Bundesarchiv nach Koblenz, sondern ist, nicht weit davon, in der Konrad-Adenauer-Stiftung in St. Augustin gelagert. Globkes Papiere sind damit dem Staat, dem er sein Leben lang diente, ebenso entzogen wie der Öffentlichkeit; sie sind schlicht privatisiert worden.“
[+++] Kommen wir zu einer staatlich bisher nicht reglementierten Art des Journalismus: Martin Krauß widmet sich im Medientagebuch des Freitag der Aktionsform der „performativen Kritik“, die auf dem Wissen beruht, „dass man Missstände mit anderen Mitteln als einem scharfen Kommentar viel effektiver offenlegen kann“. Der aus den Cultural Studies stammende Begriff wird hier verwendet, weil der taz-Sportredakteur Andreas Rüttenauer für das Amt des DFB-Präsidenten kandidiert (siehe auch Altpapier):
„Auch wenn die Kandidatur (...) nicht dazu führen wird, dass die taz künftig den den DFB-Chef stellt, so hat sie doch offengelegt, wie undemokratisch eine der wichtigsten Chefpositionen in dem, was sonntags Zivilgesellschaft genannt wird, vergeben wird.“
Krauß erinnert an ähnlich motivierte Aktionisten wie den Beinahe-Mainzelmännchenkönig Claudius Seidl sowie den amerikanischen Fußballjournalist Grant Wahl, der für das Amt des Fifa-Präsidenten kandidiert hatte. Als Aktionsfeld für performative Kritiker in spe bietet sich in diesem Jahr der Wahlkampf um den Intendantenposten beim RBB an. Die Funkkorrespondenz blickt voraus auf diese Wahl, ebenso wie auf die gleichfalls 2012 anstehende Wahl beim WDR. Die beim RBB ist allerdings etwas interessanter, weil „gemäß dem im RBB-Staatsvertrag festgelegten Procedere“ die Stelle öffentlich ausgeschrieben wird, man sich also bewerben kann, wie die FK betont. Beim WDR ist das nicht so.
[+++] Nicht für neuartige performative Kritik, sondern eher für eine eher klassische Schule des Journalismus - wenn auch mit sehr modernen Mitteln - steht das Investigativ-Ressort des Stern. Weil das Team gerade einen Blog gestartet hat, hat wuv.de mit Leiter Oliver Schröm gesprochen und ihn unter anderem nach „den grundlegenden Veränderungen“ der investigativen Recherche in den letzten Jahren gefragt:
„Die digitale Vernetzung und das leichte Herstellen von Querverbindungen, aber auch die gestiegene Zahl an leicht verfügbaren Informationen waren ein Quantensprung. (...) auch die verfügbaren Tools heute sind andere. Der Stern beispielsweise nutzt ein internes Wikipedia mit einem differenzierten Zugangssystem. Es erlaubt den für eine Recherche freigeschalteten Mitarbeitern, zu jeder Zeit den letzten Stand der Arbeit der anderen einsehen zu können.“
+++ Von der Netzpraxis zur Netzpolitik. Wolfgang Michal (Carta) nimmt die Debatte zum umstrittenen EU-Abkommen ACTA (vergleiche Altpapier) zum Anlass, sich über die typische „Bewusstseinsbildung im Netz“ Gedanken zu machen. Meist verlaufe sie so:
„Zuerst überschlagen sich die Alarmmeldungen in fast hysterischer Weise (Phase 1), dann, auf dem Höhepunkt des ‚Hypes‘, folgen extrem unterkühlte Entwarnungen: ‚Alles halb so schlimm‘, ‚aufgeblasene Gerüchte‘, ‚ein Sturm im Wasserglas‘ (Phase 2). Dann melden sich jene zu Wort, die meinen, die Wahrheit läge irgendwo in der Mitte (Phase 3). Und schließlich kehrt Ruhe ein (Phase 4) – bis der Zyklus von neuem beginnt.“
[listbox:title=Artikel des Tages[Der Zyklus der ACTA-Berichterstattung (Carta)##Wulff und das instituionalisierte Gelächter (faz.net)]]
Michal meint, in Sachen ACTA befänden wir uns gerade beim „Übergang zu Phase 3“. Auf „die Köpfe hinter ACTA in der EU-Kommission“ blickt derweil Erich Moechel (fm4.ORF.at). Und die Zeit porträtiert Cory Doctorow, dessen Blog „Boing Boing“ „den weltweiten Protest gegen staatliche Eingriffe in die virtuelle Welt vernetzt“ - aber, das nur nebenbei, auch gerade auf einen britischen Christoph Lütgert hoch drei hinweist, der einen Internet-Troll gejagt hat. Doctorow, schreibt die Zeit, sei
„im Internet (...) ein Rassembleur und ein Entscheidungspräger. Er ist einer der großen Digitalen unserer Zeit. Der Habitus der Großen der analogen Welt aber ist ihm völlig fremd.“
Letzteres ist natürlich insofern bemerkenswert, als es einige Windmacher in der digitalen Welt gibt, denen dieser Habitus überhaupt nicht fremd ist. Die Causa Netzpolitik kommt auch auf der Medienseite des Tagesspiegel, der auf eine Klage von US-Datenschützern gegen die Änderungen der Nutzungsbedingungen bei Google eingeht, sowie auf der Aufmacherseite des SZ-Feuilletons zur Sprache. Lorie Andrews, Direktorin des Institute for Science, Law and Technology am Chicago-Kent College of Law, schreibt dort über die Datensammlungen von Facebook und Google:
„Es gibt in den USA ... keine Gesetze, die Firmen, die Daten sammeln, dazu verpflichten offenzulegen, was sie über einzelne Personen wissen. Wenn ich für einen Freund auf Google Informationen über Diabetes einhole oder den Suchbegriff ‚Date-Rape-Mittel' (K.-o.-Tropfen für Vergewaltigungen) eingebe, weil ich die entsprechenden Informationen für den Roman benötige, den ich gerade schreibe, gehen die Datensammler davon aus, dass diese Suchanfragen etwas über meinen eigenen Gesundheitszustand oder meine Neigungen aussagen. Und weil nicht gesetzlich festgelegt ist, welche Informationen die Datensammler anhäufen dürfen, stellen sie ihre eigenen Regeln auf.“
Altpapierkorb
+++ Wer sich wundert über die manchmal weichen Titelthemen von Spiegel und Stern: In den USA könnte einem so etwas auch passieren. Das Time Magazine setzt zumindest in der amerikanischen Ausgabe auf „The Surprising Science of Animal Friendship", obwohl sich ja nun nicht unbedingt sagen ließe, dass weltpolitisch derzeit nichts los sei. Warum man sich für das Cover entschieden hat, steht bei Google+.
+++ Der Alzheimer-Rummel anlässlich der Erkrankung des früheren Fußballmanagers Rudi Assauer lässt nicht nach (siehe Altpapier). Nachdem es um Alzheimer bereits im Dienstagstalk „Markus Lanz“ gegangen war (mit Assauer-Freund Werner Hansch), diskutierte gestern auch Maybrit Illner (mit Werner Hansch). Bei der Berliner Zeitung gibt es dazu eine Frühkritik.
+++ Noch eine Frühkritik; „Bei Reinhold Beckmann ist die Diskussion um Christian Wulff im Stadium der Sitcom angekommen“, schreibt Harald Staun (faz.net). „Man hatte sich auf eine Art humorigen Nichtangriffspakt geeinigt, wobei Humor lediglich das Genre bezeichnet, an dem man sich erfolglos versuchte, und nicht die Stimmung, die beim Zuschauer ankam. Es war wie bei Wulff, der ja als Witzfigur auch eher Anlass zur Traurigkeit ist. Wie in einer amerikanischen Sitcom werde man künftig ‚immer das Lachband mithören‘, wenn man ihn sähe, sagte die Zeit-Journalistin Mariam Lau, womit sie ein ganz gutes Bild fand für die tragischen Effekte der Geschichte. Das Gelächter ist institutionalisiert, auch wenn die Show so traurig ist.“
+++ Dass das RTL-Mittagsmagazin „Punkt 12“ „einen uralten Fall als aktuell verkauft“ hat, steht im Blog des Medienmagazins „Zapp“.
+++ Angesichts der gerade vor sich gehenden Verjüngung des ZDF-Kulturmagazins „Aspekte“ blickt Brigitte Knott-Wolf in der Funkkorrespondenz auch auf die Geschichte der Sendung zurück: „Es gab Zeiten, da zählten die Kulturmagazine des Fernsehens zur kulturellen Avantgarde. (...) Im Lauf seiner 45-jährigen Existenz im Programmangebot des ZDF ist 'Aspekte' mit seiner Sendezeit immer weiter in den späten Abend gerutscht. Man kann es sich kaum mehr vorstellen: Das Kulturmagazin ist früher tatsächlich mal kurz nach 21.00 Uhr ausgestrahlt worden. Obwohl dem Anspruch nach bis heute kein Programm für eine elitäre Minderheit, ist es durch den jetzigen Sendeplatz genau dazu gemacht worden."
+++ Neues aus dem Murdoch-Reich: „Red wine in hand, Rupert Murdoch chatted with guests at his London townhouse on what would be one of the most important nights to the future of his company.“ So beginnt ein Artikel bei businessweek.com. Die zentrale Frage des Textes: „What happened on the fateful night last May when Rupert Murdoch decided how News Corp. would manage its phone-hacking scandal?“ Der Guardian berichtet derweil, dass Murdochs Konzern trotz eben jenes sehr kostspieligen Skandals, der die Einstellung der Zeitung News of the World nach sich gezogen hat, finanziell gerade glänzend dasteht.
+++ „Die BBC hat ihren Mitarbeitern Verhaltensregeln für die Benutzung von Twitter verordnet. In Zukunft sollen alle Nachrichten zuerst der Redaktion mitgeteilt werden, bevor man sie ins Netz stelle“. Das berichtet die SZ. Zur Irrwitzigkeit der Regelung äußert sich der Guardian ausführlich.
+++ In der taz geht es heute unter anderem um das teilweise vom Auswärtigen Amt finanzierte arabische TV-Programm der Deutschen Welle. Mit dieser ministeriellen Förderung beschäftigt sich der Bundesrechnungshof (Disclosure: Der Text ist von mir).
+++ Außerdem in der taz: Steffen Grimberg erwähnt, dass die ARD-weite „Redaktionskonferenz Online" (RKO) angesichts des wohl bevorstehenden Agreements zwischen den Öffentlich-Rechtlichen und den Verlegern zum Thema Online-Berichterstattung betont, die ARD könne „nicht auf eine eigenständige redaktionelle Berichterstattung in Textform verzichten oder diese zur Ausnahme machen". Dass man die Verhandlungsführer auf diese Selbstverständlichkeit hinweisen muss, sagt einiges über aus über die ARD (siehe natürlich Altpapier).
+++ Am 15. März erscheint erstmals eine österreichische Ausgabe des Playboy. Gut zu wissen: „Das erste Playmate made in Austria ist bereits gefunden“ (diepresse.com).
+++ Und zum Schluss etwas Leichtgängiges für Zeitschriftengeschichts-Interessierte: Wie das Magazin Life vor 40 Jahren Rockstars und ihre Eltern ins Bild setzte - daran erinnert die Daily Mail.